ein gelber Hubschrauber mit mehrerer Rotoren

Mit Multikoptern will die ADAC Luftrettung künftig schneller an Einsatzorten sein und die Reichweiten der Hilfeteams vergrößern. Der Forschungsbetrieb soll bis Anfang 2025 in zwei Modellregionen aufgenommen werden.

| ADAC Luftrettung / Volocopter
01.07.2024 VDE dialog

Forschung: Rein in die Realität

Reallabore werden gefordert und gefördert, um Forschungsprojekte direkt in der Praxis zu erproben. Das kann dazu führen, dass es Innovationen deutlich schneller in den Alltag schaffen. Doch noch ist nicht klar, welche Spielregeln in den Experimentierräumen gelten.

Von Manuel Heckel

Nicht nur in der Luft, sondern auch auf dem Boden ist einiges in Bewegung: 1.200 Elektrofahrzeuge will der Flughafen Frankfurt bis 2026 im Betrieb haben – vom Pkw über Kleintransporter und Busse bis hin zu speziellen Abfertigungsfahrzeugen. In den kommenden drei Jahren experimentiert der Flughafenbetreiber dafür mit dem sogenannten bidirektionalen Laden. Dahinter steckt das Konzept, dass Strom nicht nur von der Ladestation in die E-Auto-Akkus fließt, sondern auch umgekehrt.

Die Hoffnung: Mit den Fahrzeugen als Stromspeicher können Erzeugungs- und Verbrauchsspitzen besser abgefedert werden. Geschultert wird das Projekt von mehreren Partnern: Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) fördert das Vorhaben finanziell. Die Stromnetze Hamburg entwickeln die benötigte Software. Und die Fachbereiche Elektrotechnik und Wirtschaft der Hochschule Darmstadt kümmern sich um technische und ökonomische Fragen.

Ein Zukunftsprojekt, mitten im hektischen Flughafenalltag mit über 1.000 Starts und Landungen sowie fast 150.000 Passagieren pro Tag. Angelegt ist das Forschungsvorhaben ausdrücklich als „Reallabor“ – ein Format, das immer häufiger an der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis zum Einsatz kommt. „Das Reallabor passt ideal zur anwendungsorientierten Erforschung von Energiethemen, wie wir sie an der Hochschule Darmstadt zusammen mit Partnern aus der Industrie praktizieren“, sagt Elektrotechnik-Professor Ingo Jeromin.

Blick auf das Stadtviertel „Neue Weststadt“

Im schwäbischen Esslingen entstand das Forschungs-Stadtviertel „Neue Weststadt“, das klimaneutral errichtet und bewohnt werden soll.

| Maximilian Kamps / Agentur Blumberg GmbH

Ideen statt auf Papier in der Wirklichkeit testen

Das Potenzial von Reallaboren ist groß. Die Idee: Statt in Laboren und auf Papier, werden Innovationen direkt in der Realität getestet. So können Forschende und Unternehmen sofort erkennen, welche Hürden sich in der Praxis für neue Produkte oder Prozesse auftun – und darauf reagieren. Damit entspricht das Konzept der wissenschaftlichen Variante eines Entwicklungsprozesses, der in der Start-up-Welt beliebt ist: Statt lange an Details zu tüfteln, werden auch mal halbfertige Ideen oder Konstruktionen auf den Markt gebracht, um mit den Reaktionen der Nutzerinnen und Nutzer weiterzuarbeiten.

Geadelt wurde das Konzept in diesem Frühjahr von der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), einem wissenschaftlichen Gremium, welches die Bundesregierung berät. Die sparten in ihrem Jahresgutachten nicht mit grundsätzlicher Kritik: „Die Rahmenbedingungen für Forschung und Innovation sind in Teilen nicht mehr zeitgemäß“, sagte Uwe Cantner, Ökonomieprofessor an der Uni Jena und Vorsitzender der Expertenkommission, bei der Vorstellung des Gutachtens. Um das zu ändern, schlugen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Reihe von Initiativen vor.

Mit Nachdruck plädierten sie unter anderem dafür, stärker auf Reallabore zu setzen: „Dadurch kann der oftmals lange Weg bis zur Vermarktung von Innovationen spürbar verkürzt werden“, heißt es im Gutachten. Je umfangreicher Technologien heutige Abläufe umwälzen, je schneller der technische Fortschritt ist, desto wichtiger können frühe Erkenntnisse aus dem Alltag sein. In Themenfeldern wie dem autonomen Fahren, alternativen Mobilitätskonzepten, neuen Energiesystemen oder Künstlicher Intelligenz erleichtern es Reallabore, mögliche Szenarien von morgen schon heute zu verproben.


To-Do-Liste für die Bundesregierung

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EFI
01.07.2024 VDE dialog

Die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), bestehend aus sechs Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, beobachtet seit 2008 die Innovationsforschung in Deutschland – von den Sozial- bis zu den Ingenieurwissenschaften. Einmal jährlich übergibt die EFI der Bundesregierung ein Gutachten, zuletzt Ende Februar.

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Ein altbekanntes Konzept mit neuem Schwung

Neu ist das grundsätzliche Konzept der Reallabore nicht. Entstanden sei es vor etwa zwölf Jahren im Bereich der transformativen Nachhaltigkeitsforschung, berichtet Oliver Parodi. Er ist Forschungsgruppenleiter am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) sowie Sprecher des Netzwerks „Reallabore der Nachhaltigkeit“, in dem sich über 200 Mitglieder aus dem deutschsprachigen Raum zusammengeschlossen haben. In den letzten fünf Jahren wurde das Konzept zunehmend von Bundes- und Landesministerien adaptiert, der Fokus verengte sich ein wenig stärker auf die technologische Perspektive. Die Beliebtheit nehme jedoch beständig zu, berichtet Parodi: „Reallabore sind eine Erfolgsgeschichte – sie sind im Wissenschaftssystem angekommen und werden gefördert und gefordert.“

Heute unterscheiden sich die exakten Anforderungen und Rahmenbedingungen von Reallaboren noch häufig. Mit Spannung wird daher ein entsprechendes Gesetz erwartet, das aktuell beim BMWK in Arbeit ist. „Reallabore-Gesetz zeitnah einführen“, forderte die EFI in ihrem Jahresgutachten – angekündigt war das Vorhaben bereits im Koalitionsvertrag der Ampel. Auf ein im vergangenen Jahr veröffentlichtes Konzept für das Gesetzesvorhaben reagierten über 400 Institutionen und Organisationen mit eigenen Stellungnahmen. Man erarbeite derzeit die relevanten Gesetzesentwürfe, teilt das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz auf Anfrage des VDE dialog mit: „Der Referentenentwurf soll im Sommer dieses Jahres vorgelegt werden.“

Labore leben vom Experimentieren

Besonders neugierig blicken dabei viele Beobachter aus Wissenschaft und Wirtschaft auf die Frage, wie künftig die sogenannten Experimentierklauseln rechtlich gestaltet werden sollen. Sie bilden den Kern vieler Reallabor-Vorhaben. Denn wer innovative Konzepte im Alltag ausprobieren will, arbeitet eben nicht unter selbst geschaffenen Laborbedingungen. Und die Hindernisse sind vielfältig: „Reallabore leben vom Experimentieren“, sagt Parodi, „das wird in vielen Fällen durch vorhandene Regeln, Gesetze oder Normen so behindert, dass es kaum möglich ist.“

Die Klauseln sorgen dafür, dass die Forschungsvorhaben in einem bestehenden Rechtsrahmen umgesetzt werden können. „Man versucht, für eine gewisse Zeit gewisse Regeln kontrolliert außer Kraft zu setzen“, beschreibt Parodi diesen Vorgang. In einigen Gesetzen auf Bundesebene sind solche Ausnahmen bereits verankert. So ist in der Luftverkehrsordnung der Einsatz von unbemannten Fluggeräten geregelt – zentral für Drohnen-Projekte. Einige Zusatzparagrafen der Straßenverkehrsordnung ermöglichen es, automatisierte und autonome Fahrfunktionen zu testen. Und ein eigener Absatz im Energiewirtschaftsgesetz sorgt dafür, dass in einigen Regionen des Landes ausprobiert werden kann, wie Stromnetze mit großen Mengen erneuerbarer Energien klarkommen.

ein autonomes Transportfahrzeug fährt über Kopfsteinpflaster

In Bruchsal werden Lösungen für die Last-Mile-Logistik erprobt und stetig weiterentwickelt.

| efeuCampus Bruchsal GmbH

Durch das kommende Reallabore-Gesetz könnte klarer geregelter werden, wie es solche Experimentierklauseln in die jeweiligen Fachverordnungen schaffen. Die EFI-Kommission plädiert dabei für möglichst weit gefasste Ausnahmeregelungen, die sich nicht auf ein bestimmtes Reallabor-Vorhaben beziehen. Sonst wachse die Wahrscheinlichkeit, „dass sie nach relativ kurzer Zeit nicht mehr anwendbar ist“. Das Netzwerk „Reallabore der Nachhaltigkeit“ hingegen plädiert für eine vorsichtigere Öffnung – und für klare zeitliche Beschränkungen auf vier bis fünf Jahre. Der Rechtskanon insgesamt gehöre auf den Prüfstand, um Nachhaltigkeit zu ermöglichen und zu sichern, sagt Parodi: „Wir müssen sehr genau überlegen, was dauerhaft schützenswert ist und was nicht. Da braucht es einen großen gesellschaftlichen Diskurs.“

Bürokratische und organisatorische Hürden

Ebenso in der Diskussion: Wie kann Reallaboren vom Start weg geholfen werden? Per Definition müssen sie zahlreiche Disziplinen bedienen und benötigen die unterschiedlichsten Kompetenzen: Von der wissenschaftlichen Expertise über die juristische Beratung zu den Experimentierklauseln bis zu einer Öffentlichkeitsarbeit, die betroffene Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürger mitnimmt. „Reallaborarbeit ist eine komplexe Angelegenheit, die viel Erfahrung und viel Fingerspitzengefühl erfordert – man muss zeitgleich verschiedene Sprachen sprechen“, sagt Wissenschaftler Parodi. All das gelingt nicht automatisch. Verschiedene Projektpartner bringen unterschiedliche Ziele und Interessen mit, beteiligte Unternehmen mögen andere Prioritäten haben als die mitwirkenden Wissenschaftler. Es sei „überhaupt nicht trivial, sich auf gemeinsame Ziele zu verständigen“, sagt Parodi. „Nur dann lebt das Reallabor und kann Früchte tragen.“

Als ein möglicher Ansatz, um zumindest organisatorische Hürden zu umschiffen, wird eine zentrale Anlaufstelle ins Spiel gebracht. Die soll Projekten und Organisationen dabei helfen, sich zu informieren, sich zu vernetzen und schnell an die passenden Ansprechpartner zu kommen. In Nordrhein-Westfalen existiert seit Ende 2021 die „Digi-Sandbox.NRW“, die diese Aufgabe übernimmt – und aktuell über 80 Reallabore zwischen Ostwestfalen und der belgischen Grenze aufführt.

Künftig soll ein solches Portal bundesweit entstehen. Vorgesehen ist dafür ein „One-Stop-Shop“, der laut BMWK „schlank und bürokratiearm“ aufgesetzt werden soll. Angedacht war der Start mal für dieses Jahr. Der neue Zeitplan: „Der Aufbau des One-Stop-Shop Reallabore soll dann im Spätherbst dieses Jahres beginnen“, teilt das BMWK mit. Im Frühjahr 2025 könnte der Pilotbetrieb starten – und drei bis vier Jahre lang Erfahrungen sammeln.

Gelingt dieser Austausch über die Disziplinen, sind große Sprünge in vergleichsweise kleinen Zeiträumen möglich. Das Reallabor zum bidirektionalen Laden am Frankfurter Flughafen hat sich beispielsweise einen ehrgeizigen Zeitplan gesetzt. In den ersten zwölf Monaten, die Anfang 2024 gestartet sind, geht es vor allem darum, den Ist-Zustand zu analysieren und die technische Planung vorzubereiten.

Doch dabei soll es nicht bleiben. Die so gewonnenen Daten ermöglichten die „Entwicklung praxisnaher Lösungen im Gegensatz zu rein theoretischen oder simulationsbasierten Ansätzen“, sagt Sebastian Herold, Professor für Energiewirtschaft an der Hochschule Darmstadt. In den drei Folgejahren sollen bereits bis zu 90 Stationen für das bidirektionale Laden auf dem Flughafengelände entstehen.

Manuel Heckel ist freier Wirtschaftsjournalist aus Köln.

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