Nahaufnahme einer Turbine
stock.adobe.com/nordroden
01.04.2024 VDE dialog

Systemstabilität: Ein Markt für Trägheit

Die trägen Schwungmassen der thermischen Großkraftwerke sorgen im Stromsystem für Stabilität. Wenn fossile Kraftwerke nach und nach vom Netz gehen, sollen vor allem umrichterbasierte Anlagen wie Batteriespeicher, Wind- und Solaranlagen für die benötigte Momentanreserve sorgen. Was die Trägheit der Massen bisher von allein erledigte, muss dann ein Markt regeln.

Von Eva Augsten

Bequemlichkeit, Energielosigkeit, Faulheit, Gleichgültigkeit – diese Synonyme nennt der Duden für den Begriff „Trägheit“. Was im Duden so unerfreulich klingt, hat in der physischen Welt viele angenehme Konsequenzen. Auch wenn es nicht so aussieht: Selbst wenn uns eine Tasse aus der Hand fällt und die gesamte Schwerkraft unseres Planeten sie in Richtung Erdmittelpunkt zieht, beschleunigt sie erst nach und nach. Wenn sie auf den Boden trifft, ist sie zwar meistens schnell genug, um zu zerspringen. Doch ohne ihre Trägheit würde sie mit einer Geschwindigkeit in den Fußboden einschlagen, als wenn sie gerade aus einem Flugzeug gefallen wäre – wehe dem, der dann zu träge war, den Fuß rechtzeitig wegzuziehen. Trägheit macht unsere Welt also berechenbarer. Sie lässt uns Zeit, auf Veränderungen zu reagieren.

Das gilt auch im Stromsystem – zum Glück, denn nur so ist es möglich, die Netzfrequenz stabil zu halten, obwohl in jeder Sekunde Verbrauch und Einspeisung variieren. In den thermischen Großkraftwerken rotieren riesige Mengen von Stahl, verbaut in Turbinen, Wellen und Generatoren. Selbst wenn der Verbrauch plötzlich einbricht, sorgt die Trägheit dafür, dass die Turbinen nur verzögert beschleunigen. Die Trägheit reagiert nicht, sondern ist von vornherein da. Deshalb bezeichnet man den stabilisierenden Effekt der trägen Massen auch als Momentan- oder Instantanreserve.

Doch Trägheit kann Veränderung nur bremsen, nicht aufhalten. Finden Erzeugung und Verbrauch nicht binnen Sekundenbruchteilen wieder zusammen, verlässt die Netzfrequenz daher das sogenannte Totband zwischen 49,99 und 50,01 Hertz. Dann muss innerhalb einiger Sekunden die sogenannte Primärregelleistung zur Hilfe kommen. Batteriespeicher, flexible Gasturbinen oder auch steuerbare Lasten wie Elektrodenkessel nehmen je nach Bedarf Leistung auf oder speisen sie ein und stabilisieren so die Netzfrequenz. Nach etwa einer Minute ist dann auch die Sekundärreserve aktiviert, um die Frequenz wieder in den Zielbereich zurückzuführen. Durch das Zusammenspiel dieser Mechanismen bleibt die Netzfrequenz praktisch immer im Bereich zwischen 49,8 und 50,2 Hertz. Strom und Spannung schwingen im europäischen Verbundnetz im Gleichklang – und zwar von Aalborg bis nach Algier und von Lissabon bis nach Luhansk.

Mit fossilen Energiequellen sind Reserven einfach da

Unsere gesamte Energieversorgung ist bekanntlich in einem Komplettumbau. Wind- und Solarstrom sollen die fossilen Kraftwerke ersetzen. Wo und wann sie gebaut werden müssen und welche Speicherkapazitäten und flexiblen Verbraucher nötig sind, damit jederzeit genügend Energie zur Verfügung steht, ist in etlichen Szenarien durchsimuliert worden.

Windräder im Sonnenschein

Windräder sowie Solarzellen produzieren Gleichstrom. Um diesen in nutzbaren Wechselstrom umzuwandeln, werden Wechselrichter benötigt.

| stock.adobe.com/engel.ac

Gleichzeitig zum technischen Umbau soll sich auch die Aufgabenverteilung ändern. Im normalen Strommarkt haben Markt und Wettbewerb bereits vor Jahrzehnten Einzug gehalten. Kilowattstunden lassen sich sozusagen in den verschiedensten Packungsgrößen kaufen – vom auf Jahre festgelegten Grundlastabo bis zum spontanen Viertelstundenhäppchen. Auch die Regelenergie, die kleine Schwankungen ausgleicht, sichern sich die Übertragungsnetzbetreiber bereits seit 2001 auf einem definierten Markt. Die Trägheit, und damit auch die Momentanreserve, ist bisher hingegen kein Produkt. Sie ist einfach da.

Mit dem schrittweisen Wegfall der rotierenden Massen wird jemand deren Aufgabe übernehmen müssen. Mit Stromrichtern ans Netz angeschlossene Batteriespeicher, Windkraft- und Photovoltaikanlagen sind dafür die Kandidaten der Wahl. Bei ihnen wirkt zwar kein mechanisches Trägheitsmoment aufs Netz, doch sie könnten dieses leicht emulieren – man spricht dann von virtueller oder synthetischer Trägheit. Moderne Geräte bräuchten dafür keine neue Hardware, sondern nur ein Softwareupdate, versichern Hersteller.

„Zombienetze“ durch Tests vermeiden

Was so einfach klingt, ist ein Paradigmenwechsel. Heute passen sich sämtliche Stromrichter nämlich automatisch der Spannung und Frequenz des Netzes an. Überschreiten diese bestimmte Grenzwerte, schalten die Geräte ab. Das ist eine elementare Sicherheitsfunktion im Niederspannungsnetz. Stünde ein vermeintlich totes Netz unkontrolliert weiter unter Strom, wäre das für die Wartungsteams lebensgefährlich und könnte auch Anlagen beschädigen. Deshalb müssen die Anlagen solche Netzzustände zuverlässig erkennen können.

Ein netzbildender Umrichter gibt hingegen selbst die Sollwerte für Spannung und Frequenz vor. Je nach Zustand des Netzes fließt dann automatisch mehr oder weniger Strom ins Netz. Wie die Massenträgheit ist auch dieser Effekt inhärent. Dass man mit netzbildenden Umrichtern ein Stromnetz stabil betreiben kann, zeigen weltweit etliche Mikrogrids, die im Zusammenspiel von Dieselaggregatoren, PV-Anlagen und Batterien Hotelkomplexe, Dörfer und Bergbaubetriebe in abgelegenen Landstrichen versorgen.

Ganz so leicht wird es in Deutschland aber nicht. „Grundsätzlich sind netzbildende Wechselrichter nicht neu. Allerdings kann man die Erfahrungen aus einem begrenzten Inselnetz nicht einfach in unser großes Bestandsnetz übertragen“, sagt Professorin Jutta Hanson, Leiterin des Fachgebietes „Elektrische Energieversorgung unter Einsatz erneuerbarer Energien“ der TU Darmstadt und Vorstandsmitglied bei VDE ETG. Stattdessen müsse man sich herantasten. Wie hoch muss der Anteil netzstabilisierender Umrichter sein? Wie integriert man sie auf den verschiedenen Spannungsebenen?

Geöffneter Spannungswechselrichter

Wechselrichter werden bisher in begrenzten Netzen eingesetzt. Dies lässt sich nicht einfach so auf das Gesamtnetz übertragen.

| stock.adobe.com/romaset

Auch Dr. Enno Wieben von der EWE Netz sieht noch ein paar offene Punkte. Im Netzgebiet seines Arbeitgebers wird bereits heute in der Jahresbilanz mehr Strom eingespeist als verbraucht. Es gibt daher immer wieder Phasen, in denen Wind- und Solarenergieanlagen das Netz selbst dann am Leben halten können, wenn die zentrale Versorgung ausfällt oder für eine Wartung abgeschaltet wird. Damit das nicht passiert, geben moderne Stromrichter dem Netz immer wieder kleine Strom- oder Spannungsstupser und messen die Reaktion. In einem kleinen Inselnetz machen sich diese Anstupser sofort bemerkbar, während ein großes Netz unbeeindruckt bleibt. „Wenn in Zukunft viele netzbildende Umrichter im Netz sind, könnte es passieren, dass sie diese Schwankungen wechselseitig auffangen und so gar nicht bemerken, dass sie eine Insel bilden“, sagt Wieben. Das gefährdet Material und schlimmstenfalls auch Menschen. „Wir brauchen daher gründliche Studien, Labor- und Feldtests, um solche totgeglaubten ‚Zombienetze‘ zu vermeiden.“

Roadmap Systemstabilität gibt Richtung vor

Damit ein Systemumbau im laufenden Betrieb in dieser Größenordnung gelingen kann, müssen alle Beteiligten zusammenarbeiten. „Wer macht was wann?“ ist die große Frage – die Antwort soll die Roadmap Systemstabilität des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) geben. Über 150 Personen aus mehr als 80 Organisationen haben daran mitgearbeitet. Sie ist mitnichten ein fertiger Plan für den Systemumbau. Viele ihrer 18 Meilensteine bestehen darin, weitere Details auszuarbeiten. Das Forum Netztechnik/Netzbetrieb im VDE (VDE FNN) soll zum Beispiel noch in diesem Jahr die technischen Anforderungen und Prüfgrundlagen für die netzbildenden Stromrichter ausarbeiten, damit der Markt für Momentanreserve 2025 starten kann. Das sogenannte Festlegungsverfahren der Bundesnetzagentur läuft bereits seit Ende 2023. „Wir wollen dabei nicht festlegen, um welche Art von Anlagen es sich handeln soll, sondern wie sie sich verhalten müssen“, sagt Christoph Wulkow von VDE FNN, Projektmanager der verantwortlichen Projektgruppe. Dazu gehört, dass sie nicht nur netzbildend sind, sondern die angebotene Momentanreserve auch sicher erbringen können. Es lässt sich vermuten, dass Batteriespeicher sehr gut und sehr schnell dafür geeignet sind. Aber auch Windenergieanlagen und bestimmte Verbraucher sind sehr vielversprechend, um zeitnah Momentanreserve bereitstellen zu können. In Großbritannien hat der nationale Übertragungsnetzbetreiber ESO diesen Schritt bereits im Jahr 2019 mit dem Start des Programms Stability Pathfinder gemacht. In drei Stufen definierte er verschiedene „Produkte“, die er für die Systemstabilität braucht. Mittlerweile haben für alle Produkte erste Ausschreibungen stattgefunden. Als Ergebnis der ersten Ausschreibungsstufe entsteht im schottischen Blackhillock gerade ein 200-Megawatt-Batteriespeicher, der später noch auf 300 Megawatt wachsen soll. Laut dem Betreiber Zenobe soll er als erste Batterie der Welt „das volle Spektrum der aktiven und reaktiven Stromdienstleistungen“ bereitstellen – einschließlich der Momentanreserve.

Zuverlässigkeit, auch ohne alles abzusichern

Für Deutschland sieht die Roadmap vor, dass ab 2028 alle neuen Stromrichter netzbildend arbeiten müssen. Ab 2030 sollen sie dann einen „signifikanten Beitrag“ zur Systemstabilität leisten. Wie viel das genau ist, kann heute noch niemand beziffern, denn die Frage, wie stabil das Netz überhaupt sein soll, ist noch offen. „Alle denkbaren Ereignisse abzusichern ist weder technisch möglich noch wirtschaftlich sinnvoll“, bringt die Roadmap eine unbequeme Wahrheit auf den Punkt. Doch auch wenn man nicht vom Blizzard bis zum Vulkanausbruch „alles“ absichern kann, gibt es doch Szenarien, die sicher beherrscht werden müssen. Eines davon ist der sogenannte System Split. Der vorletzte Vorfall dieser Art begann im Emsland, als im November 2006 eine stark ausgelastete 400-kV-Leitung abgeschaltet wurde, um ein Kreuzfahrtschiff passieren zu lassen. Der jüngste System Split hatte seinen Anfang in Kroatien. In beiden Fällen setzten sich die Störungen kaskadenartig fort und lösten immer größere Sicherheitsmechanismen aus. Im letzten Schritt trennte sich dann das europäische Verbundnetz in mehrere Teilnetze – es kam zum System Split.

Die Folge: Es fließt schlagartig keine Energie mehr über die Kuppelstellen. Auf einer Seite der Trennlinie ist plötzlich deutlich zu viel Leistung im Netz und die Frequenz schießt nach oben, während sie auf der anderen Seite drastisch absackt. „Dieses Leistungsungleichgewicht muss nun auf beiden Seiten durch ausreichend Momentanreserve ausgeglichen werden, und zwar unmittelbar. Gemeinsam mit den Maßnahmen der Primärregelung kann dann die Frequenz stabilisiert werden“, sagt Wulkow. Bei den letzten beiden System Splits gelang es, diesen Bruch im System aufzufangen. Einige Stunden später waren die Netze wieder synchronisiert und verbunden.

Damit das europäische Verbundnetz und damit auch die Stromversorgung in Deutschland auch in Zukunft verlässlich bleibt, ist noch einiges zu tun. Neben der Momentanreserve werden die umrichterbasierten Anlagen zum Beispiel auch Kurzschlussstrom als Netzdienstleistung bereitstellen müssen. Doch die neue Aufgabenverteilung und dezentrale Struktur bietet auch Chancen. Wenn dezentrale und umrichterbasierte Anlagen in der Lage sind, selbst ein Netz zu bilden, eröffnet das eine neue Dimension der Resilienz. „Perspektivisch könnte man dann sogar ein Mittelspannungsnetz im Inselbetrieb fahren, wenn es einen Ausfall im Übertragungsnetz gibt“, sagt Wieben von EWE Netz. Viele Schritte und Details sind dafür noch zu klären, zum Beispiel, wie man eine solche Insel später wieder mit dem Gesamtnetz synchronisiert.

Allein die Roadmap Systemstabilität enthält 18 Meilensteine, die bis 2030 abzuarbeiten sind. Wenn das gelingen soll, darf niemand träge sein.

Eva Augsten ist freie Journalistin in Hamburg mit dem Schwerpunkt Erneuerbare Energien.

Kontakt
VDE dialog - Das Technologie-Magazin