Auch Dr. Enno Wieben von der EWE Netz sieht noch ein paar offene Punkte. Im Netzgebiet seines Arbeitgebers wird bereits heute in der Jahresbilanz mehr Strom eingespeist als verbraucht. Es gibt daher immer wieder Phasen, in denen Wind- und Solarenergieanlagen das Netz selbst dann am Leben halten können, wenn die zentrale Versorgung ausfällt oder für eine Wartung abgeschaltet wird. Damit das nicht passiert, geben moderne Stromrichter dem Netz immer wieder kleine Strom- oder Spannungsstupser und messen die Reaktion. In einem kleinen Inselnetz machen sich diese Anstupser sofort bemerkbar, während ein großes Netz unbeeindruckt bleibt. „Wenn in Zukunft viele netzbildende Umrichter im Netz sind, könnte es passieren, dass sie diese Schwankungen wechselseitig auffangen und so gar nicht bemerken, dass sie eine Insel bilden“, sagt Wieben. Das gefährdet Material und schlimmstenfalls auch Menschen. „Wir brauchen daher gründliche Studien, Labor- und Feldtests, um solche totgeglaubten ‚Zombienetze‘ zu vermeiden.“
Roadmap Systemstabilität gibt Richtung vor
Damit ein Systemumbau im laufenden Betrieb in dieser Größenordnung gelingen kann, müssen alle Beteiligten zusammenarbeiten. „Wer macht was wann?“ ist die große Frage – die Antwort soll die Roadmap Systemstabilität des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) geben. Über 150 Personen aus mehr als 80 Organisationen haben daran mitgearbeitet. Sie ist mitnichten ein fertiger Plan für den Systemumbau. Viele ihrer 18 Meilensteine bestehen darin, weitere Details auszuarbeiten. Das Forum Netztechnik/Netzbetrieb im VDE (VDE FNN) soll zum Beispiel noch in diesem Jahr die technischen Anforderungen und Prüfgrundlagen für die netzbildenden Stromrichter ausarbeiten, damit der Markt für Momentanreserve 2025 starten kann. Das sogenannte Festlegungsverfahren der Bundesnetzagentur läuft bereits seit Ende 2023. „Wir wollen dabei nicht festlegen, um welche Art von Anlagen es sich handeln soll, sondern wie sie sich verhalten müssen“, sagt Christoph Wulkow von VDE FNN, Projektmanager der verantwortlichen Projektgruppe. Dazu gehört, dass sie nicht nur netzbildend sind, sondern die angebotene Momentanreserve auch sicher erbringen können. Es lässt sich vermuten, dass Batteriespeicher sehr gut und sehr schnell dafür geeignet sind. Aber auch Windenergieanlagen und bestimmte Verbraucher sind sehr vielversprechend, um zeitnah Momentanreserve bereitstellen zu können. In Großbritannien hat der nationale Übertragungsnetzbetreiber ESO diesen Schritt bereits im Jahr 2019 mit dem Start des Programms Stability Pathfinder gemacht. In drei Stufen definierte er verschiedene „Produkte“, die er für die Systemstabilität braucht. Mittlerweile haben für alle Produkte erste Ausschreibungen stattgefunden. Als Ergebnis der ersten Ausschreibungsstufe entsteht im schottischen Blackhillock gerade ein 200-Megawatt-Batteriespeicher, der später noch auf 300 Megawatt wachsen soll. Laut dem Betreiber Zenobe soll er als erste Batterie der Welt „das volle Spektrum der aktiven und reaktiven Stromdienstleistungen“ bereitstellen – einschließlich der Momentanreserve.
Zuverlässigkeit, auch ohne alles abzusichern
Für Deutschland sieht die Roadmap vor, dass ab 2028 alle neuen Stromrichter netzbildend arbeiten müssen. Ab 2030 sollen sie dann einen „signifikanten Beitrag“ zur Systemstabilität leisten. Wie viel das genau ist, kann heute noch niemand beziffern, denn die Frage, wie stabil das Netz überhaupt sein soll, ist noch offen. „Alle denkbaren Ereignisse abzusichern ist weder technisch möglich noch wirtschaftlich sinnvoll“, bringt die Roadmap eine unbequeme Wahrheit auf den Punkt. Doch auch wenn man nicht vom Blizzard bis zum Vulkanausbruch „alles“ absichern kann, gibt es doch Szenarien, die sicher beherrscht werden müssen. Eines davon ist der sogenannte System Split. Der vorletzte Vorfall dieser Art begann im Emsland, als im November 2006 eine stark ausgelastete 400-kV-Leitung abgeschaltet wurde, um ein Kreuzfahrtschiff passieren zu lassen. Der jüngste System Split hatte seinen Anfang in Kroatien. In beiden Fällen setzten sich die Störungen kaskadenartig fort und lösten immer größere Sicherheitsmechanismen aus. Im letzten Schritt trennte sich dann das europäische Verbundnetz in mehrere Teilnetze – es kam zum System Split.
Die Folge: Es fließt schlagartig keine Energie mehr über die Kuppelstellen. Auf einer Seite der Trennlinie ist plötzlich deutlich zu viel Leistung im Netz und die Frequenz schießt nach oben, während sie auf der anderen Seite drastisch absackt. „Dieses Leistungsungleichgewicht muss nun auf beiden Seiten durch ausreichend Momentanreserve ausgeglichen werden, und zwar unmittelbar. Gemeinsam mit den Maßnahmen der Primärregelung kann dann die Frequenz stabilisiert werden“, sagt Wulkow. Bei den letzten beiden System Splits gelang es, diesen Bruch im System aufzufangen. Einige Stunden später waren die Netze wieder synchronisiert und verbunden.
Damit das europäische Verbundnetz und damit auch die Stromversorgung in Deutschland auch in Zukunft verlässlich bleibt, ist noch einiges zu tun. Neben der Momentanreserve werden die umrichterbasierten Anlagen zum Beispiel auch Kurzschlussstrom als Netzdienstleistung bereitstellen müssen. Doch die neue Aufgabenverteilung und dezentrale Struktur bietet auch Chancen. Wenn dezentrale und umrichterbasierte Anlagen in der Lage sind, selbst ein Netz zu bilden, eröffnet das eine neue Dimension der Resilienz. „Perspektivisch könnte man dann sogar ein Mittelspannungsnetz im Inselbetrieb fahren, wenn es einen Ausfall im Übertragungsnetz gibt“, sagt Wieben von EWE Netz. Viele Schritte und Details sind dafür noch zu klären, zum Beispiel, wie man eine solche Insel später wieder mit dem Gesamtnetz synchronisiert.
Allein die Roadmap Systemstabilität enthält 18 Meilensteine, die bis 2030 abzuarbeiten sind. Wenn das gelingen soll, darf niemand träge sein.
Eva Augsten ist freie Journalistin in Hamburg mit dem Schwerpunkt Erneuerbare Energien.