Dass sich der VDE nach so langem Ringen zufällig ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt für die Gründung der ETG entschloss, scheint im Rückblick schwer vorstellbar. Gerade mal zwei Monate vor der abschließenden Sitzung des Gründungsausschusses, Ende Oktober 1973, hatten Ägypten und Syrien Israel angegriffen. Der Ölpreis schoss auf inflationsbereinigt etwa 50 US-Dollar pro Barrel. Das scheint aus heutiger Sicht unspektakulär, doch nach Jahrzehnten nahezu konstanter Ölpreise, gepaart mit starkem Technik- und Wirtschaftsoptimismus, war es ein Schock. Er traf auf eine Gesellschaft, deren Verhältnis zu Technik, Wirtschaftswachstum und Autoritäten im Umbruch war. Und doch scheint die gesellschaftspolitische Dimension der Energiekrise bei der Gründung der ETG etwas gewesen zu sein, das die meisten Ingenieure nicht als ihr Themengebiet ansahen.
Fokus auf der „objektiven“ Technik
Öffentlichkeitswirksame Studien, wie die ETG sie heute publiziert, findet man aus dieser Zeit nicht. Dabei hatten Anfang der 1970er einige VDE Mitglieder eine solche Auseinandersetzung durchaus gefordert. Doch andere sahen darin eher einen Angriff auf das Ansehen der Ingenieure aus den Reihen rebellischer Geisteswissenschaftler. Sie waren überzeugt, dass der technische Fortschritt per se der Gesellschaft dienen würde, und prägten damit die damalige Arbeit der ETG.
In diesem Sinne stürzte sich die frisch gegründete Fachgesellschaft mit Engagement in die Diskussionen über die neuesten technischen Trends und Entwicklungen. Zur ersten Fachtagung im Mai 1974 in München kamen statt der erwarteten 200 mehr als 350 Teilnehmer. Dr. Konrad Geigenmüller, ETG-Gründungsvorsitzender und erster Leiter des Fachausschusses für Elektrische Maschinen und Antriebe, äußerte auf der Pressekonferenz die Hoffnung, die Menschen würden im Zuge der Krise wieder zu einer „objektiveren Haltung“ zur Technik finden. Um den Lebensstandard der Menschen auch in Entwicklungsländern zu steigern, müssten Ingenieure für eine gesicherte, rationelle und umweltfreundliche Versorgung mit Elektrizität sorgen.
In jener Zeit entstanden die grundlegenden Strukturen der ETG, die sich bis heute für die fachliche Vernetzung bewähren. Ziel war es von Anfang an, die gesamte Kette der elektrischen Energietechnik abzubilden – von der Erzeugung des Stroms bis zu seiner Verteilung und Nutzung. Bis heute gilt: Fachausschüsse treten regelmäßig zusammen, alle zwei Jahre findet der ETG Kongress statt. Die enge Vernetzung von Wissenschaft und Unternehmen ist dabei ebenso wichtig wie der möglichst offene Austausch. Selbst die großen Jahreskonferenzen sind ein vergleichsweise vertrauter Raum, in dem auch Probleme thematisiert werden können, ohne in der Boulevardpresse zu landen.
Taskforce Stromausfälle: ETG-Expertise wird öffentlich sichtbar
Wie eng Technik und Naturwissenschaften mit Gesellschaft und Politik verknüpft sind, zeigte sich spätestens mit der Liberalisierung der Energiemärkte in den 1990ern und der Privatisierungswelle. Neue Vorschriften auf europäischer Ebene sorgten dafür, dass sich vieles verändern musste, was lange unveränderlich erschienen war – aus Anschlussnehmern wurden Kunden, aus einem Verteilsystem ein Markt, aus vertikal integrierten Energieversorgern wurden Stromerzeuger, Netzbetreiber und Energielieferanten.
Im Jahr 2003 brachte eine Reihe von Stromausfällen das Thema Energie wieder in die Schlagzeilen. In Nordamerika, London, Skandinavien und Italien gingen binnen weniger Wochen die Lichter aus. In manchen Regionen dauerten die Stromausfälle mehrere Tage. In anderen waren sie kürzer, aber dafür ungewöhnlich großflächig. Für die ETG ein Anlass, Fachleute zusammenzutrommeln, um die Situation zu analysieren: Drohte hierzulande eine ähnliche Gefahr? „So kam die erste Taskforce der ETG zustande“, erzählt Benz. Die Experten untersuchten, welche Vorgänge zu den Stromausfällen geführt hatten. Für Deutschland gab die Taskforce eine bedingte Entwarnung. Die relativ dezentrale Erzeugung, die hohen Sicherheitsstandards und die enge Zusammenarbeit der Netzbetreiber können viele Probleme abfangen. Doch die Taskforce mahnte auch, Investitionen in die Versorgungssicherheit und andere Aufgaben, die sich aus der Energiewende ergeben, nicht auf die lange Bank zu schieben. Der Befund des Expertengremiums sorgte für Aufmerksamkeit, und das Konzept der zeitlich und thematisch umrissenen Taskforce etablierte sich als Format in der ETG. Über 30 Taskforces haben mittlerweile Analysen zu aktuellen Themen vorgelegt, fast immer mit einem direkten Bezug zur Energiewende.
Die Aufgaben sind komplex. „Uns ist es deshalb wichtig, in den Taskforces tiefgründige Expertise aus sehr verschiedenen Disziplinen zusammenzubringen“, sagt Benz. Das überlässt die ETG nicht dem Zufall. „Wir sprechen gezielt einzelne Personen an, auf deren Fachkenntnisse wir Wert legen. Und zusätzlich nutzen wir offene ‚Call for Experts‘, um diejenigen zu erreichen, an die wir womöglich nicht gedacht haben, die aber ebenfalls wichtig sind. Das Zusammenstellen von solchen interdisziplinären Teams ist sozusagen unser Markenkern in der ETG“, erklärt Benz.
Expertise im Dienst gesellschaftlicher Ziele
Um angesichts der immer komplexeren und interdisziplinären Fragestellungen nicht den Faden zu verlieren, definierte die ETG 2018 zusätzlich zu den Fachgebieten erstmals sogenannte Fokusthemen. Im Jahr 2023 wurden diese aktualisiert. An den Fokusthemen können sich die Taskforces und die verschiedenen Fachgruppen und Ausschüsse immer wieder ausrichten. Die drei eher naturwissenschaftlich gefassten Fokusthemen „Multienergiesysteme“, „Nachhaltigkeit“ und „Künstliche Intelligenz“ knüpfen an die bestehende Arbeit an. Neu hinzugekommen sind „Politik und Gesellschaft“ sowie „Ausbildung und Nachwuchsgewinnung“.
Die Expertise der ETG soll also explizit auch gesellschaftliche Ziele unterstützen, zum Beispiel die Energiewende. „Dabei sind wir weiterhin zuallererst der Technik verpflichtet“, sagt Benz, und führt aus, was das für ihn bedeutet: „Aus unserer Expertise folgt die Verantwortung, frühzeitig auf Aufgaben hinzuweisen, die sich auf dem gewählten Weg stellen. Zum Beispiel, dass mit dem Kohleausstieg auch die Schwungmassen der Kraftwerke wegfallen. Um unser elektrisches Energiesystem stabil zu halten, brauchen wir einen Ersatz dafür.“ Bestenfalls werden solche Hinweise von verschiedenen Seiten aufgegriffen, zum Beispiel in der „Roadmap Systemstabilität“ der Bundesregierung oder von den Herstellern von Umrichtern für Wind- und Photovoltaikanlagen. Dabei soll es nicht darum gehen, einzelne Branchen oder Rollen zu stärken. „Wir sind kein Lobbyverband“, stellt Benz klar. Doch mehr Reichweite und mehr Gehör wünscht er sich durchaus: „Wir wollen in den nächsten Jahren auch vermehrt technisch interessierte Laien ansprechen, sowohl in der Politik als auch in der Allgemeinheit. Wir brauchen mehr gemeinsames Verständnis für die Energiewende.“
Generationswechsel gelungen, Fachkräfte bleiben knapp
Begeisterung für Ingenieursberufe in der Energietechnik zu wecken, ist eine der Aufgaben, die sich VDE und ETG von Anfang an gestellt haben. In einer Zeit, in der rasante Entwicklung auf verschärften Fachkräftemangel trifft, ist das Thema besonders essenziell. Zu wenige junge Menschen beginnen mit einem Studium in den Fachrichtungen, die nötig sind, um die Energiewende technisch zu bewältigen. Zumindest kann man aber sagen: Der ETG ist es gelungen, eine große Zahl dieser Nachwuchskräfte für den Verband zu gewinnen. „Obwohl unsere Mitgliederzahl leider geschrumpft ist, hat das Engagement in den Gremien nicht nachgelassen. Das liegt auch daran, dass wir junge Menschen gezielt zur Mitarbeit ermutigen, zum Beispiel in den Taskforces“, so Benz. Die Zusammenarbeit mit den Hochschulen und dem VDE Young Net ist dabei eng.
Gemeinsam für eine resiliente Infrastruktur mit Zukunft
Die Generation der „Digital Natives“ wird in der Energiewelt von morgen dringend gebraucht. Bei der Gründung war die NTG, die Vorläuferin der VDE ITG, das formale Vorbild der ETG. Heute verzahnen sich die Themen beider Fachgesellschaften so eng, dass man kaum sagen kann, wo eine aufhört und die andere anfängt. „Energietechnik und Netzbetrieb sind in Zukunft ohne Informations- und Kommunikationstechnik gar nicht mehr denkbar“, sagt Benz. Erzeuger und Verbraucher können nur flexibel aufeinander reagieren, wenn sie sicher und schnell kommunizieren, Automatisierungstechnik und Digitale Zwillinge sollen der Elektrizitäts- und Netzwirtschaft helfen, die Reaktionen der komplexen Systeme abzubilden.
Neben den Chancen der Digitalisierung befasst sich die ETG auch damit, wie man deren Risiken reduziert. Um die Widerstandsfähigkeit gegen Krisen zu stärken, wird die interdisziplinäre Zusammenarbeit wichtiger denn je. Die Entscheidungen der Vergangenheit machen das teilweise schwer. Der aus den 1990ern stammende Grundsatz des Unbundling fordert, dass die Netzplanungen für Strom, Gas und Telekommunikation unabhängig voneinander erfolgen. „Das ist, wenn man es heute betrachtet, nicht mehr im Sinne der Krisenfestigkeit. Fällt der Strom aus, muss das Kommunikationsnetz so stabil wie möglich weiterlaufen – und umgekehrt“, erklärt Benz. Damit das gelingt, müssen die Planer beider Infrastrukturen nicht nur ihre Ergebnisse austauschen, sondern auch voneinander lernen und die jeweilige Denkweise der anderen verstehen. „Transdisziplinarität“ heißt dieser Ansatz, der heute immer wichtiger wird, auch in der ETG.
50 Jahre nach ihrer Gründung liegt die Rolle der Fachgesellschaft also noch immer im Austausch und im Beisteuern von technischer Expertise, doch die Herangehensweise hat sich mit der Zeit gewandelt und wird es weiter tun, denn die Aufgaben von morgen werden sich nur mit den Methoden von morgen lösen lassen.
Eva Augsten ist freie Journalistin in Hamburg und schreibt über die Energiewirtschaft und Erneuerbare Energien.