Als die Bundesregierung 2018 ihre nationale Strategie für Künstliche Intelligenz (KI-Strategie) verkündete, hatte sie Großes im Sinn. Von einem "Schlüssel zur Welt von morgen" wurde geschwärmt und von einem Weg an die „Weltspitze“ war die Rede. Es ginge um die „Zukunft Deutschlands als Industriestandort“, so die klare Ansage. Um die gesteckten Ziele zu erreichen, wurden in der Strategie zwölf Handlungsfelder definiert, allen voran das Handlungsfeld „Forschung“. Dafür sollte „ein starkes, dynamisches, flexibel agierendes, breit und interdisziplinär aufgestelltes sowie international wettbewerbsfähiges KI-Ökosystem“ aufgebaut werden. Konkret: ein Netzwerk aus sechs, über ganz Deutschland verteilte Forschungs-Leuchttürme. Die Einrichtung dieser KI-Kompetenzzentren wurde in den vergangenen drei Jahren via Projektförderung vorangetrieben, am 1. Juli beginnt nun die „Verstetigung“ durch eine institutionelle Förderung.
Jetzt wird losgeforscht!
Aber ist die KI damit jetzt hierzulande wirklich auf dem Weg zur Weltspitze? Ein klares „Ja, auf jeden Fall“ hört man auf diese Frage noch nicht einmal vonseiten der Kompetenzzentren. Prof. Dr. Antonio Krüger, Vorsitzender der Geschäftsführung des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz GmbH (DFKI), spricht von „einigen Topleuten, die ganz oben in der Spitze mitspielten. Weltweit anerkannt!“. Prof. Dr. Katharina Morik, Sprecherin des Kompetenzzentrums in Dortmund/Bonn, findet, dass es „herausragende Einzelleistungen“ gäbe. Von einem KI-Ökosystem als ein „stabiles Gefüge“ könne noch an keinem der neuen Zentren die Rede sein. Und Prof. Dr. Klaus-Robert Müller, Co-Direktor des Berlin Institute for the Foundations of Learning and Data (BIFOLD), unterstreicht, dass sich die deutsche KI-Forschung im weltweiten Vergleich zwar durchaus „nicht verstecken“ müsse, gut wäre man allerdings nur im Verhältnis zu den Mitteln, die zur Verfügung stünden. Denn nicht nur die Chinesen und die US-Amerikaner würden ganz andere Summen in die Forschung investieren. „Meine Kollegen und Kolleginnen in Montreal bekommen eine mindestens zehnmal so hohe Förderung wie wir hier in Berlin“, ärgert sich Müller. Das müsse allen Verantwortlichen klar sein, die hierzulande von Weltspitze schwadronierten.
Nur 15 der 100 KI-Professuren wurden in den Kompetenzzentren besetzt
Vor allem, so die einhellige Meinung von Krüger, Morik und Richter, fehlt es in Deutschland an Professoren und Professorinnen, die Künstliche Intelligenz erforschen, aber eben auch lehren können. Denn der Bedarf an Fachkräften ist riesig. Doch wo sollten sie herkommen, wenn selbst in den neuen Kompetenzzentren oft nicht mehr als eine Handvoll Professoren und Professorinnen arbeiten? Dabei wurde Anfang Mai verkündet, dass das „100-Professuren-Programm“ der KI-Strategie erfolgreich abgeschlossen und die hundertste zusätzliche Professur besetzt werden konnte. Unklar ist, ob das die dringend benötigten KI-Professoren und -Professorinnen im engeren Sinne sind. „Wir brauchen keine Bindestrich-KI-Professoren, also Leute anderer Disziplinen, die KI nur anwenden, sondern welche, die KI selbst ,machen‘, also Methoden entwickeln und weiter vorantreiben“, betont Morik.
Ein weiteres Problem ist, dass erst jetzt, mit dem Start der institutionellen Förderung, Stellen ausgeschrieben werden können. Dementsprechend sind bislang auch lediglich 15 der 100 Professuren in den universitären Kompetenzzentren aufgebaut worden und da vor allem in München und Tübingen. Denn nur die finanzstarken Länder Bayern und Baden-Württemberg hatten die Mittel und den politischen Willen, vorzupreschen und in den personellen Ausbau ihrer Kompetenzzentren zu investieren. Bei allen andern beginnt erst jetzt die „Jagd“ nach den wenigen Expertinnen und Experten, wie es Morik ausdrückt. Dabei konkurrieren die Zentren nicht nur untereinander, sondern vor allem auch mit anderen Standorten auf der ganzen Welt – kein einfaches Unterfangen, wenn sich die Leute aussuchen können, ob sie nach Dortmund oder Dresden oder eben nach Cambridge oder Granada gehen wollen. „Die Frage ist tatsächlich, wie wir an neue Professoren und Professorinnen herankommen – denn eine normale Ausschreibung wird sicherlich keinen Erfolg haben“, überlegt Morik. Um gute Leute zu bekommen, müsse man attraktiv sein. Um jedoch als Standort attraktiv zu sein, müsse man bereits gute Leute haben. „Eine echte Zwickmühle.“
Belebt Konkurrenz das Geschäft? Oder doch eher Kooperation?
Dabei ist die Konkurrenz unter den deutschen KI-Zentren eigentlich nicht im Sinne der Erfinder. Die damalige Forschungsministerin Anja Karliczek (CDU) installierte eine Koordinierungsstelle, die das Miteinander im Netzwerk zum Ziele einer gemeinsamen, nationalen Strategie befördern sollte. Dies machte Karliczek allerdings, ohne diese Stelle mit entsprechenden Mitteln auszustatten, wie Morik etwas verärgert anmerkt – sie selbst war es, die von der Ministerin mit dieser Aufgabe betraut wurde. Zwar betont ihr Kollege Müller, dass er sich ohnehin schon immer mit anderen Kollegen und Kolleginnen ausgetauscht habe, Forschung keine Grenzen kennen solle und ein gewisser Wettbewerb unter den Zentren durchaus das Geschäft bzw. die Wissenschaft beleben könne. Im Großen und Ganzen sind sich alle drei jedoch einig, dass ein koordiniertes Vorgehen und ein gemeinsames Auftreten sinnvoll wäre. „Zumal wir die KI in Deutschland ja auch skalieren wollen. Und dann reicht das persönliche Beziehungsgeflecht von einzelnen Professorinnen und Professoren einfach nicht aus“, so Morik.
Doch damit zurück zu den 50 Millionen Euro, die nun jedes Jahr an die Kompetenzzentren fließen sollen. Und zurück zur KI-Strategie, in der von einer rund 100 Mal größeren Summe die Rede ist – nämlich von 5 Milliarden Euro, die von 2019 bis 2025 für Künstliche Intelligenz bereitgestellt werden sollten. In den Kompetenzzentren stellt sich die Frage, warum sie als „Leuchttürme deutscher KI-Forschung“ ein doch so verhältnismäßig kleines Stück vom Kuchen abbekommen (Morik: „Ich wüsste zu gerne, wo das ganze Geld hinfließt“). Wird das Geld tatsächlich genutzt, um Deutschland in Sachen KI an die Weltspitze zu bringen? Letzteres wollte im vergangenen September auch die Bundestagsabgeordnete Dr. Anna Christmann (Die Grünen) wissen und stellte eine kleine Anfrage an die Bundesregierung. Das Ergebnis: Von den für die KI-Strategie bereitgestellten 5 Milliarden Euro wurden bis dato knapp 3,5 Milliarden Euro in die Etats der Bundesministerien aufgenommen, davon jedoch gerade einmal 346,5 Millionen Euro – also weniger als 10 Prozent – ausgegeben. Die „angebliche Modernisierungsoffensive“ der Bundesregierung stehe in einem „krassen Gegensatz zur miserablen Bilanz bei Zukunftstechnologien“, so das harsche Urteil von Christmann, die mittlerweile übrigens nicht mehr Oppositionspolitikerin ist, sondern Beauftragte für Digitale Wirtschaft und Start-ups im Wirtschaftsministerium. Nun hat sie es also ein Stück weit selbst in der Hand, dass das Geld ausgegeben wird und ankommt – denn knapp ein Viertel der gesamten KI-Mittel, fast eine Milliarde Euro, befinden sich im Etat ihres Ministeriums.
Doch auch in anderen Ministerien – insbesondere im Bundesforschungsministerium – hätte es mit dem Regierungswechsel Anfang Dezember eigentlich richtig losgehen können. Während die große Koalition bereits im ersten halben Jahr ihrer Amtszeit eine nationale Strategie für Künstliche Intelligenz auflegte, ist jedoch von der Ampel-Regierung im gleichen Zeitraum bislang nicht viel zu hören gewesen. Auf mehrfache Nachfrage hieß es seitens einer Sprecherin des Bundesforschungsministeriums Ende Mai nur lapidar, dass man intensiv an der Umsetzung der KI-Strategie arbeite und die Weiterentwicklung der Kompetenzzentren vorantreibe. „Weitere Maßnahmen sind in Arbeit und werden zeitnah verkündet.“
Bislang war von der Bundesregierung zum Thema KI nicht viel zu hören
Was das sein könnte, war zum Redaktionsschluss noch offen. DFKI-Chef Krüger mutmaßt jedoch, dass vor allem der Technologietransfer unter der neuen liberalen Führung des Forschungsministeriums beschleunigt werden könnte. So machte bereits im vergangenen Jahr Dr. Thomas Sattelberger, seinerzeit Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion für Forschung und Innovation, von sich reden, als er ausgerechnet das DFKI als Dinosaurier bezeichnete, „behäbig und wenig innovativ“. Jenes wirtschaftsnahe KI-Kompetenzzentrum also, das, im Unterschied zu den universitätsnahen Zentren, sich ganz der angewandten Forschung und dem Technologietransfer verschrieben hat. Wenn dieses Zentrum sich schon zu sehr auf die Entwicklung von Prototypen fokussiere, statt diese auch tatsächlich auf den Markt zu bringen, so Sattelbergers Kritik damals, was sollte man dann erst über die fünf anderen – vermeintlichen oder tatsächlichen – „Elfenbeintürme“ sagen?
Unbestreitbar ist, dass Deutschland schon lang im Ruf steht, zwar gute (Grundlagen-)Forschung zu betreiben, jedoch Defizite hat, wenn es darum geht, die eigenen Innovationen zu „vergolden“ bzw. als Produkt zu vermarkten. Das ist nicht nur so im Bereich der Künstlichen Intelligenz, aber eben auch, wie Antonio Krüger, Katharina Morik und Klaus-Robert Müller offen einräumen. Die Gründe hierfür sind jedoch vielfältig, eine Schuldzuweisung in Richtung der Forschungszentren unangebracht. Morik betont, dass einfach viel zu wenig Fachkräfte ausgebildet werden könnten, um den Transfer in Industrie und Wirtschaft überhaupt bewerkstelligen zu können. Müller weist darauf hin, dass es den Risikokapitalgebern an Risikobereitschaft und den Start-ups damit am nötigen Kleingeld fehle, um hier mal etwas Großes aufzuziehen. Und Krüger beklagt den Gründungswillen vieler jungen Leute, aber auch allgemein die fehlende Gründungskultur in der Gesellschaft: „Da ist sicherlich noch Luft nach oben.“
Alle heben jedoch hervor, dass Deutschland durchaus auf gutem Weg sei. Das DFKI realisiert ohnehin 90 Prozent seiner Projekte in enger Kooperation mit Industriepartnern. In Berlin setzt man schon seit Jahren auf den Ausbau einer Gründerumgebung, weil die Stadt längst erkannt hat, dass sie auf diesem Feld punkten kann. Aber auch in Regionen wie Rhein-Ruhr lässt man nichts unversucht, um strategische Partnerschaften mit der Industrie zu vereinbaren. Hinzu kommen Initiativen von außen, wie das Netzwerk KI Park, bei dem der VDE Gründungsmitglied und ständiges Mitglied im Verwaltungsrat ist.
Wie es mit der KI-Forschung weitergeht, ist aber trotzdem nicht zuletzt abhängig davon, wie in der Hauptstadt mit dem Thema künftig umgegangen wird. Nimmt der Zug an Fahrt auf, wie viele hoffen und noch mehr fordern? Oder könnte er angesichts der aktuellen Herausforderungen und finanziellen Belastungen – wie Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg – eher ausgebremst werden, wie andere befürchten? Als schlechtes Zeichen könnte diesbezüglich der Rücktritt von Thomas Sattelberger gewertet werden. Denn auch der kritische FDP-Abgeordnete von einst hatte nach dem Regierungswechsel Karriere gemacht: Er wurde Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesforschungsministerium und bekam den eigens für ihn eingerichteten Posten als „Beauftragter für Transfer und Ausgründungen aus der Wissenschaft“. Unter anderem plante er dafür die Gründung der Innovationsagentur DATI, die jedoch nicht so recht vom Fleck kam, weil ihm der Haushaltsausschuss die dafür nötigen Mittel verweigerte. Sein Ausscheiden erklärte Sattelberger Ende Mai mit persönlichen und gesundheitlichen Gründen. Man kann diesen Schritt indes auch als "kaschierten politischen Protest" (Tagesspiegel) interpretieren. Bis zum Redaktionsschluss hat er dieser These zumindest nicht widersprochen.
Martin Schmitz-Kuhl ist freier Autor aus Frankfurt am Main und Redakteur beim VDE dialog.