Darstellung von Vernetzung in Deutschland in blauer Farbe
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01.07.2022 Publikation

„Wir könnten noch deutlich mehr erreichen!"

Immer wieder heißt es, Deutschland sei Forschungsweltmeister, aber schlecht darin, die Innovationen zu „vergolden“. Was an diesem Mythos stimmt, erklärt Klaus-Robert Müller vom Berliner KI-Forschungszentrum BIFOLD.

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Klaus-Robert Müller

Prof. Dr. Klaus-Robert Müller ist Professor für Machine Learning an der TU Berlin and Co-Direktor des Berlin Institute for the Foundations of Learning and Data (BIFOLD), einem der sechs nationalen Kompetenzzentren für Forschung zu Künstlicher Intelligenz (KI).

| BIFOLD

Wo steht denn Ihrer Ansicht nach die deutsche KI-Forschung im internationalen Vergleich?

Wir brauchen uns sicherlich nicht verstecken. Viele der wichtigen Ideen aus der KI sind bislang aus Deutschland gekommen.

Oft heißt es, wir wären Forschungsweltmeister, würden es aber nicht schaffen, die Forschung auch in die Anwendung zu bringen und damit Geld zu verdienen.

Schon der erste Teil dieses Satzes ist falsch. Denn wir sind nur Forschungsweltmeister im Verhältnis zu dem, was wir an Mitteln bekommen. Wir sind zwar sehr froh, dass die Vorgängerregierung mit der KI-Strategie dieses Thema aufgegriffen hat, das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Fördersummen in anderen Ländern noch einmal ganz andere sind. Und da rede ich noch nicht einmal von den Chinesen, die natürlich riesige Summen investieren, und auch nicht von den US-Amerikanern, die ebenfalls ganz anders mit dem Thema umgehen. Denn auch zum Beispiel meine Kollegen in Montreal bekommen eine mindestens zehnmal so hohe Förderung als wir hier in Berlin. Das muss allen in Deutschland klar sein. Denn wenn wir in Deutschland international kompetitiv viele Forschungsgelder in KI bekämen, könnten wir noch deutlich mehr erreichen! Es gibt einfach viel zu wenige Core-KI-Professuren.

Und der zweite Teil des Satzes?

Hier sehe ich das eigentliche Problem. Denn die Industrie hat natürlich einen riesigen Bedarf an gut ausgebildeten KI-Fachleuten. Da es aber kaum Menschen gibt, die das hierzulande lehren, haben wir auch viel zu wenige Menschen, die hier ihr Studium abschließen. Eine Top-Uni in den USA hat vielleicht hundert KI-Professoren und -Professorinnen, wir hier in Berlin haben jedoch gerade einmal eine Handvoll Professoren, die sich diesem Gebiet zuordnen würden. Und das macht einfach einen Unterschied!

Das heißt, wir haben letztlich zu wenige Menschen, die die KI auch zu Geld machen könnten?

So ist es! Es ist natürlich nicht so, dass hier nichts passieren würde. Berlin ist ja für seine vielen Start-ups berühmt, und Studierende aus meinem Lehrstuhl haben bereits Firmen gegründet, in denen nun über 500 Leute arbeiten. Aber es müssten einfach noch viel mehr Menschen ausgebildet werden. Dann hätten wir auch auf diesem Gebiet noch deutlich bessere Ergebnisse. Allerdings sehe ich hier in Deutschland noch ein ganz anderes Problem.

Und das wäre?

Die Risikobereitschaft der deutschen Investoren. Die meisten sind ungefähr so risikofreudig wie die Kreisparkasse Hintertupfingen und haben ganz offensichtlich nicht verstanden, dass Risikokapital bedeutet, echte Risiken tragen zu müssen. Hinzu kommt, dass die Investitionsvolumen viel geringer sind als beispielsweise in den USA und es fehlt auch an professionellen Managementstrukturen, die man braucht, um als Investor ein Start-up in allen Phasen der Gründung unterstützen zu können. Wir dürfen uns deshalb nicht wundern, wenn unsere Leute lieber nach Amerika gehen, wenn sie ein Unternehmen gründen wollen. Sie würden ja gerne in Deutschland Unicorns aufziehen, aber es funktioniert hier einfach strukturell nicht so gut. Biontec war damals eine löbliche Ausnahme, die aber genau deshalb funktioniert hat, weil die Strüngmann-Brüder als Investoren Risiken eingehen. 

Aber ein grundsätzliches Problem, dass in Deutschland vielleicht zu viel auf Wissenschaft und Forschung gesetzt wird und dabei der Transfer in Industrie und Wirtschaft verschlafen wird, sehen Sie offenbar nicht. Richtig?

Ja, für mich ist diese ganze Theorie-Praxis-Diskussion, die immer wieder einmal losgetreten wird, haarsträubender Blödsinn. Denn gerade in der KI ist der Unterschied zwischen Theorie und Praxis ein ganz kleiner. Wenn ich bei Daimler eine Innovation einführe, braucht es fünf, eher zehn Jahre, bis es in der neuen Fahrzeuggeneration Generation der Fahrzeuge implementiert ist. So funktioniert Maschinenbau. Wenn es aber bei Amazon eine neue KI-Innovation gibt – im Sinne einer mathematischen, algorithmischen Neuheit –, kann das innerhalb von zwei Wochen eingeführt werden. Genau das ist der Unterschied zwischen KI-Wertschöpfung und klassischer Wertschöpfung! Und genau das ist auch der Grund, warum wir bei uns in den Hochschulen vor allem eine gute Theorie machen sollten. Da halte ich es mit Kurt Lewin, der einmal gesagt haben soll: „Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie.“

Der Vorgängerregierung war es wichtig, eine Koordinierungsstelle für die Zentren des deutschen KI-Netzwerks zu installieren. Hatte man die Befürchtung, dass ansonsten nebeneinanderher gearbeitet wird?

Zunächst einmal: Eine Zusammenarbeit mit den anderen Zentren muss uns nicht von der Politik verordnet werden. Das machen wir ohnehin – schlicht und einfach, weil da gute Leute arbeiten und weil es inhaltlich sinnvoll ist. Allerdings haben wir natürlich genauso enge Kooperationen mit guten Leuten in Tokio, Seoul, Paris, Stanford oder Los Angeles. Um ein wissenschaftliches Problem zu lösen, ist es völlig egal, wo die Partner sitzen.

Es ging der Regierung ja auch eher um die nationale Koordination. Oder sehen Sie nicht die Gefahr, dass man zum Beispiel in Berlin viel Geld und „Gehirnschmalz“ in ein Projekt steckt und hinterher erfährt, dass in München an genau den gleichen Themen gearbeitet wurde?

Erstens wissen wir durchaus, was die Kollegen und Kolleginnen machen, denn wir reden auch miteinander. Aber zweitens es ist doch auch völlig okay, wenn an unterschiedlichen Standorten an den gleichen Themen geforscht wird. Dieser wissenschaftliche Wettbewerb, wer als Erster quasi die Nuss knackt, ist doch gewollt! Denn Konkurrenz belebt auch bei uns das Geschäft. Und genau daraus entstehen doch dann auch wieder Kooperationen, weil man erkennt, dass gemeinsam vielleicht schneller die Nuss geknackt werden kann. Manchmal schließen sich dafür dann alle zusammen, manchmal passiert das in Gruppen. Aber niemals werden dadurch „Gehirnschmalz“ oder auch Investitionen vergeudet. Im Gegenteil: Nur so wird neues Wissen erschaffen.


Interview: Martin Schmitz-Kuhl