Mechanisierter Industrieroboter und menschlicher Angestellter arbeiten in einer zukünftigen Fabrik zusammen
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01.07.2022 Publikation

Industrie 5.0 Maschinen für Menschen

Die meisten Unternehmen stecken noch mittendrin im Projekt „4.0“, da werden auf EU-Ebene die Leitlinien für die nächste – nachhaltigere, resilientere und menschenzentriertere – Industriegeneration skizziert. Unschärfen sind dabei gewollt.

von Manuel Heckel

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Ist nach einer Dekade schon die nächste industrielle Revolution fällig? Anfang 2011 stellte ein Beratergremium der Bundesregierung das Konzept „Industrie 4.0“ vor. Genau zehn Jahre später wird die nächste Ziffer ins Spiel gebracht: Im Januar 2021 veröffentlichte die EU-Kommission erstmals ein Rahmenwerk für die „Industrie 5.0“. Und skizzierte mit dem Vorhaben eine anspruchsvolle Vision für die zukünftige Produktionslandschaft: In der 5.0-Welt sollen Mensch und Maschine, Nachhaltigkeit und Effizienz, hohe Flexibilität und starke Resilienz kein Widerspruch mehr sein. Insbesondere die Corona-Pandemie habe bestehende Probleme im produzierenden Gewerbe aufgezeigt, so die Einschätzung der Kommission. Eine wachsende Bedrohung durch den Klimawandel, fehlende Fachkräfte und immer wieder durchgeschüttelte Lieferketten – all das beschäftigt auch die Industrie. Und auf all das soll das Industrie-5.0-Konzept eine Antwort liefern. "Jetzt ist es an der Zeit, Arbeitsplätze inklusiver zu gestalten, widerstandsfähigere Lieferketten aufzubauen und nachhaltigere Produktionsweisen einzuführen", sagte Marija Gabriel, EU-Kommissarin für Forschung, Innovation und Bildung, Kultur und Jugend, bei der Veröffentlichung des ersten Konzeptpapiers. Im Vorwort zitierte die Kommission sogar Albert Einstein: "In der Mitte von Schwierigkeiten liegen die Möglichkeiten."

Tiefgreifender als technische Neuerungen

Eine ambitionierte Aufgabe. Während die Unternehmen selbst zunächst zurückhaltend blieben, legte die EU nach: Anfang dieses Jahres veröffentlichte der EU-Arbeitskreis „Expert group on the economic and societal impact of research and innovation“ (kurz ESIR) ein ausführlicheres Papier, in dem das Projekt Industrie 5.0 ausführlich dargelegt wird. Noch ist das Konzept vor allem ein Blick in die Zukunft, in manchen Teilen ein Wunschzettel für eine neue Wirtschaftswelt: „Eine transformative Vision für Europa“ überschrieb das ESIR-Gremium seine Veröffentlichung.

Porträtfoto von Jessica Fritz

"Die Unternehmen können nicht mal eben ihre Maschinen verändern. Das ist heute noch ein riesiger Aufwand mit enormen Kosten. Und es muss am Ende auch für kleinere Unternehmen möglich und verträglich sein, diesen Umbruch mitzugestalten." Jessica Fritz, Managerin Digitale Technologien und Services beim VDE

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Zwar könne Europa nicht allein einen globalen Wandel herbeiführen, der acht Milliarden Menschen sichere und nachhaltige Lebensbedingungen garantiert, schreiben die ESIR-Autoren. Doch der EU als Ganzes und der hiesigen Industrie im Speziellen könne eine besondere Rolle zukommen: „Wir glauben, dass sie die Weltgemeinschaft zu dem tiefgreifenden Systemwandel führen kann, der in diesem und den nächsten Jahrzehnten unweigerlich erforderlich sein wird.“ Schon heute kann es daher für Industrieunternehmen Sinn machen, sich mit den zentralen Ideen auseinanderzusetzen – nicht nur, um nicht später von regulatorischen Vorgaben überrascht zu werden.

Statt um die nächste technische Revolution geht es dabei um einen tiefgehenderen Ansatz: Das lässt sich gut an einer der drei Säulen des Industrie-5.0-Konzeptes erkennen. Neben Nachhaltigkeit und Resilienz steht die „menschenzentrierte“ Industrie im Fokus. Man wolle Arbeiter nicht ersetzen, sondern befähigen, heißt es in der ersten Skizze aus dem vergangenen Jahr. Angesichts eines wachsenden Fachkräftemangels innerhalb Europas keine Herangehensweise, die nur aus sozialer Überzeugung an Bedeutung gewinnt.

Schon seit vielen Jahren nimmt der Robotereinsatz in der Industrie zu. Immer häufiger übernehmen automatisierte Systeme industrielle Routineaufgaben, um den Rücken oder den Schichtplan des Produktionsmitarbeiters zu entlasten. Mit dem Industrie-5.0-Ansatz ändert sich jetzt aber noch einmal die Perspektive: „Bislang ging es häufig darum, den Menschen aus der Arbeit heraus zu automatisieren“, sagt Jessica Fritz, Managerin Digitale Technologien und Services beim VDE, „dabei ist die große Herausforderung, dass Menschen und Roboter tatsächlich Hand in Hand arbeiten.“ Das Spektrum der möglichen Einsatzorte ist dabei groß. Dazu können Cobots gehören, aber auch Smartwatches und Datenbrillen. Je nach Aufgabe in der Produktion kann den Systemen hier eine unterschiedliche Bedeutung zufallen. Mal liefern sie Material an, mal geben sie die nächsten Arbeitsschritte vor, mal bereiten sie eine Auswahl für den Menschen vor. Wie bei anderen Innovationen gilt hier: Die Kosten für die Hardware sind in den vergangenen Jahren deutlich gesunken. Das macht es für viele Unternehmen attraktiver, die Systeme anzuschaffen. Doch mit dem Kauf ist es nicht getan. Damit aus einem Nebeneinander von Mensch und Maschine ein Miteinander wird, ist deutlich mehr als die Anschaffung des Systems nötig. Zunächst ist schon im Vorfeld eine klare Analyse wichtig: „Man muss es so austarieren, dass eine effiziente Teambildung zwischen Mensch und Maschine stattfindet, mit dem Ziel, gegenseitig Stärken zu steigern und Schwächen auszugleichen“, sagt VDE Expertin Fritz.

Wo Erfahrung fehlt, muss Weiterbildung her

Um die Effizienz dann tatsächlich zu erhöhen, müssen die Beschäftigten zudem ein gutes Gefühl dafür haben, an welchen Stellen im Arbeitsalltag die digitalen Helfer für Fortschritt sorgen. Bei Augmented-Reality-Lösungen, die etwa in der Logistik oder bei Wartungsarbeiten zum Einsatz kommen können, lassen sich diese Herausforderungen ganz praktisch beobachten. „Unsere Studien unter Produktionsmitarbeitern zeigen, dass die Akzeptanz deutlich steigt, wenn Mitarbeiter Augmented Reality wirklich verstehen“, sagt etwa Philipp Rauschnabel, der als Marketing-Professor an der Universität der Bundeswehr in München zu der Technologie forscht. Wo die Erfahrung fehlt, müssen Weiterbildungen her, die die Scheu vor der Hardware verschwinden lassen. Aus einer Herausforderung für die Industrie wird dabei schnell eine gesellschaftliche Aufgabe.

Die konkret gesuchten Fähigkeiten im Arbeitsleben entwickelten sich im selben Tempo weiter wie die Technologien, schreibt die EU-Kommission in ihrer Bestandsaufnahme von Januar 2021: „Die europäische Industrie kämpft mit einem Fachkräftemangel, und die Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen sind nicht in der Lage, auf diese Nachfrage zu reagieren.“ In der Fabrikhalle wird es vor allem darum gehen, den unmittelbaren Interaktionspunkt zwischen System und Beschäftigten zu verbessern – die sogenannte Mensch-Maschine-Schnittstelle. Sogar ethische Fragen können relevant werden, wenn etwa Künstliche Intelligenz bei der Entscheidungsvorbereitung hilft. „Wenn Industriearbeiter eng mit intelligenten Maschinen zusammenarbeiten, muss sichergestellt werden, dass die Werkzeuge weder explizit noch implizit die Würde des Arbeiters, unabhängig von seiner Rasse, seinem Geschlecht oder seinem Alter, untergraben“, heißt es im ersten Entwurf der EU. Neben IT-Spezialisten und Produktionsexperten dürften in Zukunft auch Designer, Psychologen und Pädagogen mit am Tisch sitzen, wenn es um diese Kontaktstelle geht. "Das erfordert eine Menge Verstandeskraft aus den verschiedensten Disziplinen", sagt Fritz. Im nächsten Schritt wird die EU aber nicht nur Konzepte vorlegen können – sondern auch Aufklärungsarbeit leisten müssen. Denn die Namensgebung des neuen Konzeptes mag zwar griffig sein, sie ist jedoch irreführend. Standen bei den vorherigen Sprüngen zumeist konkrete Technologien im Fokus (bei 1.0 die Dampfmaschine, bei 4.0 die cyber-physischen Systeme), geht es jetzt um eine übergreifende Vision. Nicht alle Expertinnen und Experten sind daher glücklich mit der Namenswahl.

Roboter Industrie

Der Einsatz von Robotern in der Industrie nimmt seit Jahren zu. Dieser Entwicklung zollt der Industrie-5.0-Ansatz Tribut und macht gleichzeitig klar, dass bei allen technischen Fortschritten der Mensch im Fokus stehen soll.

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Ein Update, keine Revolution

 "Ich persönlich finde den Begriff ‚Industrie 5.0‘ einschüchternd, weil es mit einer Art Revolution gleichgesetzt wird", sagt etwa Ailin Huang. Sie ist Head of Sustainability beim Berliner Mobilitätsanbieter Tier, der unter anderem Scooter und E-Bikes in Städten aufstellt. Nebenbei ist sie eines von zwei deutschen Mitgliedern des ESIR-Arbeitskreises. Man könne es „als ‚Update‘ von Industrie 4.0 mit einem ganzheitlichen Ansatz sehen“, sagt Huang. Auch Kevin Lau hadert mit dem Zeitensprung, den die neue Ziffer suggeriert. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entrepreneurship der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und beschäftigt sich in seiner Promotion mit der digitalen Transformation in der Fertigung. In einem gemeinsamen Paper mit Kollegen der WWU Münster und der RWTH Aachen ordnete er das Vorhaben im vergangenen Jahr eher als „Industrie 4.1“ ein. "Es ist kein abrupter Wechsel, es sind fließende Übergänge", sagt er.

Die gute Nachricht: Damit bremst das Konzept erst mal keines der Projekte aus, das in den vergangenen Jahren gestartet wurde. Da geht es zum einen um konkrete Vorhaben in den Unternehmen: Ob 5G-Campusnetze für schnelleren Datenaustausch oder voll vernetzte Maschinen, die nach dem Pay-per-Use-Modell abgerechnet werden – gerade das Internet der Dinge hat es in einigen Firmen bereits aus dem Pilotprojekt in die Praxis geschafft. Man sei „in der Umsetzungsphase angekommen“, beobachtet Wissenschaftler Lau. Auf der anderen Seite haben Verbände und Initiativen viel Mühe in den Aufbau von Standards und Normen gesteckt, die den Weg für Industrie 4.0 ebnen sollen. Die Spanne reicht vom Referenzarchitekturmodell RAMI 4.0 bis zu ganz konkreten Dokumenten wie der IEC 63278-1 ED1, die eine Interoperabilität von Daten zulassen soll. All diese Vorarbeiten werden auch einer Industrie-5.0-Welt zugutekommen, sind Experten überzeugt. „Grundsätzlich ist mein Eindruck, dass das Konzept in der Praxis sehr aufgeschlossen betrachtet wird“, sagt Lau.

Frühstarter können profitieren

Eine gute Basis für die kommenden Jahre. Denn für Unternehmen kann es viel Sinn machen, das Thema Industrie 5.0 genau zu beobachten. "Aus allen Dimensionen ergeben sich potenziell Wettbewerbsvorteile für die Unternehmen", sagt Wissenschaftler Lau. Einige Aspekte, vor allem die Nachhaltigkeit, werden in den kommenden Jahren immer stärker von der Regulatorik begleitet. Einen Vorgeschmack bietet das Lieferkettengesetz, das ab Anfang des kommenden Jahres bereits größere Unternehmen zu mehr Transparenz verpflichtet. Über das Großprojekt „Green Deal“ dürften zusätzliche Maßnahmen folgen, die die Industrie zu mehr erneuerbaren Energien und geringerem Ressourcenverbrauch animieren wird. Die hohe Bedeutung der Resilienz ist vielen Firmen in den letzten Monaten deutlich geworden. Wer die eigene Lieferkette unabhängiger gegen externe Schocks macht, muss weder bei explodierenden Rohstoffpreisen noch bei gestrandeten Megafrachtern um den laufenden Betrieb fürchten. Und aus ureigenem Interesse dürfte die Dimension der „menschenzentrierten“ Industrie die Unternehmen beschäftigen. Gute Fachkräfte werden eine effiziente Unterstützung durch Technologie fordern – eine gelungene Mensch-Maschinen-Interaktion in der Fabrikhalle kann künftig sogar auf die Arbeitgebermarke einzahlen.

Zweckdienlich und zukunftsfähig

Luxus und Problem zugleich: Noch verraten die Leitlinien wenig über ganz konkrete Technologien oder Entwicklungen, die durch zukünftige Förderprojekte unterstützt werden könnten. Unternehmen müssen umgekehrt kaum fürchten, heute an einer komplett falschen Stelle zu investieren. Expertin Huang empfiehlt, pragmatisch vorzugehen – und zu schauen, welche Funktionen heute bereits innerhalb des Unternehmens existieren. So könne man "Industrie 5.0 nutzen, um ambitionierte Ziele zu verfolgen und Veränderungen voranzutreiben". Wer jetzt schon loslegt, ist Huang überzeugt, kann sich so noch einen Vorsprung gegenüber trägeren Mitbewerbern sichern: "Industrie 5.0 ist sehr stark mit 'Purpose' und Zukunftsfähigkeit verbunden – ich würde sogar sagen, dass das Thema auf lange Sicht unvermeidbar ist."


Manuel Heckel ist freier Wirtschaftsjournalist aus Köln.

"Einsatz von intelligenten Systemen verändert unsere Arbeit – Wir kommen da nur zusammen weiter"

Roboter- und menschliche Hand
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01.07.2022 Publikation

Mensch und Maschine, das perfekte Duo in der digitalisierten Produktionswelt: Diesem Zielbild spürt Jessica Fritz nach. Als Managerin Digitale Technologien und Services beim VDE beschäftigt sie sich seit vielen Jahren mit der ganz praktischen Zusammenarbeit, die als "menschenzentrierte Produktion" im Industrie-5.0-Konzept der EU noch einmal an Bedeutung gewinnt. Im Interview spricht sie über das Potenzial einer gelungenen Mensch-Maschine-Interaktion – und über wichtige Schritte mit dem Ziel, menschengerechte Technologie zu gestalten.

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