Zwar könne Europa nicht allein einen globalen Wandel herbeiführen, der acht Milliarden Menschen sichere und nachhaltige Lebensbedingungen garantiert, schreiben die ESIR-Autoren. Doch der EU als Ganzes und der hiesigen Industrie im Speziellen könne eine besondere Rolle zukommen: „Wir glauben, dass sie die Weltgemeinschaft zu dem tiefgreifenden Systemwandel führen kann, der in diesem und den nächsten Jahrzehnten unweigerlich erforderlich sein wird.“ Schon heute kann es daher für Industrieunternehmen Sinn machen, sich mit den zentralen Ideen auseinanderzusetzen – nicht nur, um nicht später von regulatorischen Vorgaben überrascht zu werden.
Statt um die nächste technische Revolution geht es dabei um einen tiefgehenderen Ansatz: Das lässt sich gut an einer der drei Säulen des Industrie-5.0-Konzeptes erkennen. Neben Nachhaltigkeit und Resilienz steht die „menschenzentrierte“ Industrie im Fokus. Man wolle Arbeiter nicht ersetzen, sondern befähigen, heißt es in der ersten Skizze aus dem vergangenen Jahr. Angesichts eines wachsenden Fachkräftemangels innerhalb Europas keine Herangehensweise, die nur aus sozialer Überzeugung an Bedeutung gewinnt.
Schon seit vielen Jahren nimmt der Robotereinsatz in der Industrie zu. Immer häufiger übernehmen automatisierte Systeme industrielle Routineaufgaben, um den Rücken oder den Schichtplan des Produktionsmitarbeiters zu entlasten. Mit dem Industrie-5.0-Ansatz ändert sich jetzt aber noch einmal die Perspektive: „Bislang ging es häufig darum, den Menschen aus der Arbeit heraus zu automatisieren“, sagt Jessica Fritz, Managerin Digitale Technologien und Services beim VDE, „dabei ist die große Herausforderung, dass Menschen und Roboter tatsächlich Hand in Hand arbeiten.“ Das Spektrum der möglichen Einsatzorte ist dabei groß. Dazu können Cobots gehören, aber auch Smartwatches und Datenbrillen. Je nach Aufgabe in der Produktion kann den Systemen hier eine unterschiedliche Bedeutung zufallen. Mal liefern sie Material an, mal geben sie die nächsten Arbeitsschritte vor, mal bereiten sie eine Auswahl für den Menschen vor. Wie bei anderen Innovationen gilt hier: Die Kosten für die Hardware sind in den vergangenen Jahren deutlich gesunken. Das macht es für viele Unternehmen attraktiver, die Systeme anzuschaffen. Doch mit dem Kauf ist es nicht getan. Damit aus einem Nebeneinander von Mensch und Maschine ein Miteinander wird, ist deutlich mehr als die Anschaffung des Systems nötig. Zunächst ist schon im Vorfeld eine klare Analyse wichtig: „Man muss es so austarieren, dass eine effiziente Teambildung zwischen Mensch und Maschine stattfindet, mit dem Ziel, gegenseitig Stärken zu steigern und Schwächen auszugleichen“, sagt VDE Expertin Fritz.
Wo Erfahrung fehlt, muss Weiterbildung her
Um die Effizienz dann tatsächlich zu erhöhen, müssen die Beschäftigten zudem ein gutes Gefühl dafür haben, an welchen Stellen im Arbeitsalltag die digitalen Helfer für Fortschritt sorgen. Bei Augmented-Reality-Lösungen, die etwa in der Logistik oder bei Wartungsarbeiten zum Einsatz kommen können, lassen sich diese Herausforderungen ganz praktisch beobachten. „Unsere Studien unter Produktionsmitarbeitern zeigen, dass die Akzeptanz deutlich steigt, wenn Mitarbeiter Augmented Reality wirklich verstehen“, sagt etwa Philipp Rauschnabel, der als Marketing-Professor an der Universität der Bundeswehr in München zu der Technologie forscht. Wo die Erfahrung fehlt, müssen Weiterbildungen her, die die Scheu vor der Hardware verschwinden lassen. Aus einer Herausforderung für die Industrie wird dabei schnell eine gesellschaftliche Aufgabe.
Die konkret gesuchten Fähigkeiten im Arbeitsleben entwickelten sich im selben Tempo weiter wie die Technologien, schreibt die EU-Kommission in ihrer Bestandsaufnahme von Januar 2021: „Die europäische Industrie kämpft mit einem Fachkräftemangel, und die Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen sind nicht in der Lage, auf diese Nachfrage zu reagieren.“ In der Fabrikhalle wird es vor allem darum gehen, den unmittelbaren Interaktionspunkt zwischen System und Beschäftigten zu verbessern – die sogenannte Mensch-Maschine-Schnittstelle. Sogar ethische Fragen können relevant werden, wenn etwa Künstliche Intelligenz bei der Entscheidungsvorbereitung hilft. „Wenn Industriearbeiter eng mit intelligenten Maschinen zusammenarbeiten, muss sichergestellt werden, dass die Werkzeuge weder explizit noch implizit die Würde des Arbeiters, unabhängig von seiner Rasse, seinem Geschlecht oder seinem Alter, untergraben“, heißt es im ersten Entwurf der EU. Neben IT-Spezialisten und Produktionsexperten dürften in Zukunft auch Designer, Psychologen und Pädagogen mit am Tisch sitzen, wenn es um diese Kontaktstelle geht. "Das erfordert eine Menge Verstandeskraft aus den verschiedensten Disziplinen", sagt Fritz. Im nächsten Schritt wird die EU aber nicht nur Konzepte vorlegen können – sondern auch Aufklärungsarbeit leisten müssen. Denn die Namensgebung des neuen Konzeptes mag zwar griffig sein, sie ist jedoch irreführend. Standen bei den vorherigen Sprüngen zumeist konkrete Technologien im Fokus (bei 1.0 die Dampfmaschine, bei 4.0 die cyber-physischen Systeme), geht es jetzt um eine übergreifende Vision. Nicht alle Expertinnen und Experten sind daher glücklich mit der Namenswahl.