Roboter- und menschliche Hand
Pixelbliss / Fotolia
01.07.2022 Publikation

"Einsatz von intelligenten Systemen verändert unsere Arbeit – Wir kommen da nur zusammen weiter"

Mensch und Maschinen rücken in der Produktion näher zusammen, davon geht das Industrie-5.0-Konzept der EU aus. Das bietet laut Jessica Fritz viel Potenzial – und einige Hürden der nicht technischen Art, sagt die VDE-Expertin. Mensch und Maschine, das perfekte Duo in der digitalisierten Produktionswelt: Diesem Zielbild spürt Jessica Fritz nach. Als Managerin Digitale Technologien und Services beim VDE beschäftigt sie sich seit vielen Jahren mit der ganz praktischen Zusammenarbeit, die als "menschenzentrierte Produktion" im Industrie-5.0-Konzept der EU noch einmal an Bedeutung gewinnt. Im Interview spricht sie über das Potenzial einer gelungenen Mensch-Maschine-Interaktion – und über wichtige Schritte mit dem Ziel, menschengerechte Technologie zu gestalten.

Kontakt
VDE dialog - Das Technologie-Magazin
Jessica Fritz, Managerin Digitale Technologien und Services beim VDE

Jessica Fritz, Managerin Digitale Technologien und Services beim VDE

| Privat

Schon heute gehören intelligente Systeme in vielen Firmen zum Alltag und es werden immer mehr. Was muss sich in dieser Entwicklung verändern? 
Bislang ging es häufig darum, den Menschen aus der Arbeit heraus zu automatisieren. Doch mittlerweile ist man zu der Erkenntnis gekommen, dass der Mensch Fähigkeiten besitzt, die nicht durch eine Maschine oder KI ersetzt werden können. Dabei ist die große Herausforderung, dass Mensch und System tatsächlich Hand in Hand arbeiten. Das heißt aber auch: Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die bislang Routinearbeiten durchführen mussten, müssen lernen, mit den intelligenten Systemen umzugehen. Das benötigt neue Kompetenzen und eine andere Verantwortung – häufig sind sie dafür noch nicht ausgebildet worden. Es braucht deshalb dringend Konzepte, wie Arbeitskräfte durch den Einsatz von intelligenten Maschinen profitieren und nicht dequalifiziert werden. 

Sollten die Fachkräfte nicht an die Kooperation mit der Technologie gewöhnt sein? 
Bisher wurden sie bei der Implementierung meist nicht befragt oder kaum aufgeklärt. Wenn intelligente Systeme ins Unternehmen integriert werden, müssen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bei diesem technologischen Update mitgenommen werden. In deren Vorstellung schwenken auf einmal Roboterarme gefährlich an einem vorbei, die Maschine reagiert anders als bisher bekannt und sie wissen nicht, ob sie einem führerlosen Transportsystem aus dem Weg gehen müssen. Zusätzlich gibt es von Mensch zu Mensch einen unterschiedlichen Umgang mit digitalen Systemen sowie Unter- und Überforderung. Da gibt es viele Fehlgedanken und Ängste, die wir ausräumen müssen. 

Wenn das gelingt: Welchen Mehrwert hat eine gelungene Mensch-Maschine-Interaktion?
Man muss es so austarieren, dass eine effiziente Teambildung zwischen Mensch und Maschine stattfindet, mit dem Ziel, gegenseitig Stärken zu steigern und Schwächen auszugleichen. Das erfordert eine Menge Verstandeskraft aus den verschiedensten Disziplinen, u.a. UX-Design, Psychologie, Maschinen- und Roboterethik, und bietet z.B. verbesserte Vorhersagbarkeit, reduzierte Kosten und Freiraum für menschliche Kreativität, um Innovationen zu schaffen.

Was bringen die beiden Seiten denn konkret in die Zusammenarbeit ein?
Eine Maschine kann beispielsweise viel schneller aus Daten eine Antwort generieren und komplexere Aufgaben lösen. Ein Mensch kann nicht so zügig erfassen, wo vielleicht ein Schräubchen schief eingesetzt ist. Das kann das intelligente System sehr wohl schaffen und seinem Verantwortlichen, also dem Menschen, mehrere Optionen vorschlagen. Das kann gerade in Stresssituationen sehr entlastend sein, wenn schnell Entscheidungen getroffen werden müssen.

Welche Rolle bleibt dem Menschen dann noch?
Der Mensch punktet vor allem in Situationen, die es vorher noch nicht gab. Intelligente Systeme, die basierend auf Algorithmen Entscheidungen treffen, haben mit historischen Daten trainiert. Dies kann besonders in unvorhergesehenen Ereignissen zu Fehleinschätzungen führen. Der Mensch kann aufgrund seiner Erfahrung und menschlichen Fähigkeiten eine kreative Lösung finden. Hinzukommend kann er mehr Zeit für Innovationen oder Geschäftsmodelle investieren – er kann auch von außerhalb der Firma viele Ideen mithineinbringen. Gleichzeitig gewinnt der Mensch durch die intelligenten Systeme auch die Zeit, sich auf seine Stärken und Kompetenzen zu konzentrieren. 

Wie tastet man sich bei dem Megaprojekt "Industrie 5.0" denn überhaupt vor? 
Eine saubere Analyse ist das Wichtigste für den Anfang. Da geht es erstens um eine Befragung von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, die später konkret mit den intelligenten Systemen zusammenarbeiten werden. Z.B., um die Frage zu klären, an welcher Stelle sie sich Unterstützung oder Entlastung wünschen. Denn viel zu häufig wird auf einer höheren Ebene entschieden – ohne diejenigen einzubinden, die täglich damit arbeiten werden und die Schmerzpunkte im Alltag erleben. 

Was gehört noch alles dazu?
Zweitens steht da die Frage, wo man dank der verstärkten Mensch-Maschine-Interaktion eigentlich hinwill. Und drittens geht es darum, was in dem Unternehmen überhaupt möglich ist. Man kann sich bei anderen Firmen umschauen – aber eine Blaupause liefert das nicht. Dafür sind die Maschinenparks historisch zu unterschiedlich gewachsen. Da geht es dann um die konkreten Schritte für das individuelle Vorhaben: Was kosten die benötigten Systeme überhaupt? Wie kann ich sie einsetzen? Und vor allem muss ich die bestehenden und fehlenden Kompetenzen der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen kennen, um zu wissen: Welche Weiterbildungen brauchen sie? 

Auf welche Technologien müssen Unternehmen ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen denn vorbereiten? 
Dazu zählt jeder Punkt, an dem der Mensch verstehen muss, wie der aktuelle Systemzustand der Maschine gerade ist – und andersherum. Hier geht es u.a. um Künstliche Intelligenz, AR/VR, Cobots und Smart Devices. 

Und wo steht die Industrie auf diesem Weg? 
Es fehlt noch viel. Wir stehen da am Anfang. Vielleicht kann man aus den heutigen technischen Möglichkeiten alles das generieren, was man benötigt. Doch noch muss es sehr kompliziert aus vielen Modulen und Puzzlestückchen zusammengesetzt werden. Die Unternehmen können nicht mal eben ihre Maschinen verändern. Das ist heute noch ein riesiger Aufwand mit enormen Kosten. Und es muss am Ende auch für kleinere Unternehmen möglich und verträglich sein, diesen Umbruch mitzugestalten. Besonders die benötigte Fachexpertise, die es braucht, um eine erfolgreiche Mensch-Maschine-Interaktion zu gestalten, ist in den Unternehmen heutzutage kaum gebündelt vorzufinden.

Es kämpft also jeder für sich allein? 
Wir kommen da nur zusammen weiter. Es wird jetzt darum gehen, die Expertise zu bündeln, weil diese Aufgabe allein kaum zu schaffen ist. Hier handelt der VDE seit 2018 mit seiner Expert:innen-Gruppe "Mensch-Maschine-Interaktion", die die benötigte Fachexpertise vorweist, und unterstützt mit Handlungsempfehlungen, basierend auf Zukunftsszenarien mit innovativen Technologien und neuem Mindset, welche Anforderungen zur Einbindung der neuen Arbeitsformen im Unternehmen umgesetzt werden sollten. Gerne kann man jederzeit auf mich zukommen.

Interview: Manuel Heckel