Eine Straßenbahn, eine Hochspannungsleitung und ein begrüntes Hochhaus sind hinterlegt mit rotem, grünem und gelbem Kreis
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03.01.2022 Publikation

Für immer anders

Auf dem Weg in die enkeltaugliche Zukunft geht es für die Industrie um die größte Transformation der deutschen Nachkriegsgeschichte, für EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen um das Überleben der Menschheit. Aus dem einstigen Wohlfühlthema Nachhaltigkeit ist ein disruptiver Faktor geworden, der über die Existenz entscheidet – auch von Unternehmen und Regierungen.

Von Ulrich Tückmantel

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Noch nie stand eine deutsche Bundesregierung so sehr unter Druck, bevor sie überhaupt im Amt war: Vor der Weltklimakonferenz Ende Oktober verlangten die Vereinten Nationen eine Versiebenfachung der Klimaschutzbemühungen, um das vereinbarte 1,5-Grad-Ziel noch zu erreichen. Zeitgleich wandte sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit einem dramatischen Appell an die Weltgemeinschaft: „Es geht um das Überleben der Menschheit.“ Parallel klingelte in Berlin der Postbote aus Brüssel: Erstmals (und als einziges größeres EU-Mitglied) muss Deutschland aufgrund von 22 Millionen Emissions-Einheiten im Minus für 2020 Klima-Ausgleichszahlungen leisten. Und um die Latte noch ein wenig höher zu legen, formulierte auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) seine aktuelle Studie „Klimapfade 2.0“ im Superlativ: „Deutschland steht vor der größten Transformation seiner Nachkriegsgeschichte.“

Nichts davon ist übertrieben. Und eigentlich böte die Klimakrise genau jetzt Politik und Wirtschaft die Chance, das Land gemeinsam in Richtung Nachhaltigkeit umzubauen. Denn die gesetzlich verankerte Erreichung der Treibhausgasneutralität bis 2045 erfordert „einen fundamentalen Umbau unseres Energiesystems, unserer internationalen Energieversorgung, unseres Gebäude- und Fahrzeugbestands, unserer Infrastruktur sowie großer Teile unserer produzierenden Wirtschaft“, so die BDI-Studie. 80 Unternehmen und Industrieverbände mit mehr als 150 Expertinnen und Experten haben daran mitgeschrieben und kommen auf gewaltige Zahlen.

Explodierende Benzin- und Heizkosten, massive Lieferengpässe, Rohstoffmangel, steigende Mieten und die spürbare Inflation schüren jedoch die Gegenforderungen einer von Corona erschöpften und durch die vierte Pandemiewelle gespaltenen Bevölkerung gegenüber der Ankündigung weiterer Belastungen und Verzichtsforderungen. Der Druck, gegen jede Vernunft den Aufbruch in eine sozial-ökologische Marktwirtschaft, wie ihn SPD, Grüne und FDP während der Koalitionsbildung ausgehandelt haben, weiter zu verschieben, könnte in diesem Winter noch erheblich steigen. Dafür müsste gar nicht viel passieren. Es müsste nur ein bisschen dunkler, ein bisschen windstiller und ein bisschen kälter werden: etwa so, wie das Wetter 2017 zwischen dem 16. und dem 25. Januar war.

Dunkelflauten und Frostperioden machen die Dringlichkeit deutlich

Grafische Darstellung von Nachhaltigkeit / Skyline mit blauen Pfeilen
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Zehn Tage lang wurden damals deutschlandweit Abend für Abend gegen 19 Uhr maximal 7,9 bis 13,7 Gigawatt Strom aus erneuerbaren Energien ins Netz eingespeist – während Industrie, Gewerbe und Haushalte gleichzeitig zwischen 72,8 und 76,0 Gigawatt Leistung abfragten. Das öffentliche Leben brach 2017 während dieser kalten Dunkelflaute bloß deshalb nicht zusammen, weil genügend Strom aus Atom- und Kohlekraftwerken zur Verfügung stand. 2018 schlug das Wetter wieder zu. Diesmal nicht als Dunkelflaute im Januar, sondern als überraschende Frostperiode mit Temperaturen von bis zu minus 20 Grad Celsius zwischen Mitte Februar und Anfang März. Vom 17. bis zum 23. Februar lieferten in der kritischen Zeit von 17 bis 19 Uhr erneuerbare Energien nur 11 Prozent der benötigten Stromleistung; wieder mussten vor allem Kohle- und Atomkraftwerke ran. Doch die sind inzwischen weitgehend abgeschaltet, da Deutschland als einziges Industrieland gleichzeitig aus der Atomkraft und der Kohleverstromung aussteigt: 2020 gingen die ersten Kohlekraftwerke vom Netz, Ende dieses Jahres werden nur noch 30 von einst 40 Gigawatt Kohlekraftwerksleistung in Betrieb sein. Am 31. Dezember 2022 wird in Bayern bei „Isar 2“ als letztem und leistungsstärkstem deutschen Kernkraftwerk (1485 MW) der Stecker gezogen.

Was SPD, Grüne und FDP bereits in den Sondierungen zur Regierungsbildung vereinbart haben, kommt also keine Sekunde zu früh: „Wir machen es zu unserer gemeinsamen Mission, den Ausbau der erneuerbaren Energien drastisch zu beschleunigen und alle Hürden und Hemmnisse aus dem Weg zu räumen. Dazu werden wir Planungs- und Genehmigungsverfahren erheblich beschleunigen.“ Dabei werden vor allem die Grünen auch mit ihnen in der Sache eigentlich nahestehenden Organisationen Konflikte austragen müssen. Denn Natur- und Klimaschutz gehen nicht immer Hand in Hand. So hat zum Beispiel der Vorsitzende des NRW-Landesverbands Erneuerbare Energien (LEE) und frühere Grünen-Landtagsabgeordnete Reiner Priggen im November in Düsseldorf erstmals eine LEE-Demonstration gegen den Naturschutzbund Deutschland (NABU) organisiert: „Gerade dessen Landesverband in Nordrhein-Westfalen hat in den zurückliegenden Jahren mit zahlreichen Klageverfahren und Interventionen bei den Genehmigungsbehörden vor allem den Bau von Windparks erschwert“, so Priggen. Der NABU erschwere die Energiewende auch durch „vorgelagerte Einwendungen, die zu jahrelangen Verzögerungen führen“. Allein in NRW habe der Nabu in den letzten Jahren mehr als 100 Windenergieanlagen mit über 500 Megawatt Leistung blockiert, mehrere Tausend Tonnen CO2 könnten deshalb nicht eingespart werden.

Kohleausstieg und Windkraftanlagen sind umstritten, Photovoltaik wird akzeptiert

Der Anteil der erneuerbaren Energien im Stromsektor übertraf 2020 mit 251 Milliarden Kilowattstunden zwar erstmals die Stromerzeugung aus fossilen Energieträgern (ohne Atomstrom), machte aber dennoch erst 45,4 Prozent des Bruttostromverbrauchs aus. Das ist immerhin ein Anstieg von 4 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Laut Umweltbundesamt basiert dieser Anstieg vor allem auf einem steigenden Zubau von Photovoltaikanlagen: Innerhalb der letzten fünf Jahre sei die insgesamt installierte Photovoltaikleistung von 39.224 Megawatt (2015) um 37 Prozent auf 53.848 Megawatt (2020) gestiegen. Während der politische Streit vor allem um Kohleausstieg und Windkraftanlagen tobt, finden Photovoltaikanlagen die höchste Akzeptanz in der Bevölkerung. Laut einer vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE zitierten Umfrage zählen Solaranlagen zu den beliebtesten Energieerzeugern der Deutschen. Und: „Die Beliebtheit steigt, wenn solche Kraftwerke in der eigenen Nachbarschaft praktisch erfahrbar sind.“

Das alles könnte Manfred Trimpop bestätigen. Der gelernte Elektriker, seit 40 Jahren VDE Mitglied, trommelt im sauerländischen Schalcksmühle für die Photovoltaik und ist alles andere als ein typischer Klimawende-Aktivist. Als junger Elektriker hat er Nachtspeicheröfen installiert, und war immer ein Freund der Kernenergie. „Ich finde es falsch, dass wir da ausgestiegen sind.“ Schon vor Jahren legte er sich einen 5000-Liter-Regenwassertank zu, probierte Solarzellen zur Warmwassererzeugung aus und installierte einen Holzvergaserofen. Das benötigte Holz schlägt er im eigenen nachwachsenden Wald; zwei Hektar Nachhaltigkeit, die er einer Erbengemeinschaft abkaufen konnte. Und seit März erzeugt Manfred Trimpop nun auch seinen eigenen Strom mit einer Photovoltaikanlage auf dem Dach. Was hat ihn überzeugt? „Heute ist es bezahlbar und es funktioniert“, sagt Trimpop.

Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit kurbeln nebenbei das örtliche Handwerk an

Grafische Darstellung von Nachhaltigkeit / Mast als Collage mit blauen Pfeilen
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Das sind Argumente, die im sauerländischen Schalcksmühle mehr zählen als politische Appelle. Die meisten Arbeitsplätze in der 10.000-Einwohner-Gemeinde im Märkischen Kreis (NRW) gibt es seit Generationen in den Familienbetrieben der Elektro- und Metallindustrie. 80 Vereine sorgen für ein reges Gemeinschaftsleben, den Bürgermeister sowie die Mehrheit im Gemeinderat stellt die Unabhängige Wählergemeinschaft (UWG). Als Vorsitzender der Siedlergemeinschaft Waldesruh-Stallhaus wirbt Manfred Trimpop mit dem eigenen Beispiel hartnäckig bei seinen Siedlerfreunden, jetzt Geld in die Hand zu nehmen und Photovoltaikanlagen auf den Dächern der schmucken Eigenheime zu installieren. „Die autarke Nutzung und Speicherung des eigenen Stroms ist der wichtigste Schritt“, findet der 69-Jährige, „und das rechnet sich“. Auch die örtliche Lokalzeitung hat bereits über sein Werben geschrieben, das nebenbei Arbeit für örtliche Handwerker schafft.

Wasserstoffwirtschaft ist der Schlüssel zur zweiten Stufe der Energiewende

Die Konzentration der politischen Diskussion auf den für das Jahr 2030 prognostizierten höheren Stromverbrauch von zwischen 645 und 665 Terawattstunden (der Bundesverband Erneuerbare Energien geht gar von 740 Terawattstunden aus) darf nicht den Blick darauf verstellen, dass eine gelingende Energiewende mit Strom allein gar nicht zu machen ist. Das sieht auch VDE Präsident Prof. Dr. Armin Schnettler so und warnt: „Ohne eine ausgeprägte Wasserstoffwirtschaft wird die zweite Stufe der Energiewende, die Dekarbonisierung, nicht zünden! Und zwar allein schon deshalb nicht, weil etwa 50 Prozent des globalen Endenergiebedarfs gar nicht oder nur schwer zu elektrifizieren sind“ (siehe Interview).

Dabei ist auch die Dekarbonisierung nur eine von vier „Disruptionen“, die das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) als die aktuell größten strukturellen Herausforderungen ausmacht: Zur Dekarbonisierung kommen Digitalisierung, Demografie und Deglobalisierung hinzu. Und alle vier stellen sich bei näherer Betrachtung als Nachhaltigkeitskrisen dar, die auf fortgesetzter Kurzsichtigkeit fußen. IW-Direktor Michael Hüther in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung: „Wegen der Versäumnisse der vergangenen Jahre ist nun gleichzeitig zu leisten, was bereits je für sich den politischen Diskurs, die parlamentarische Entscheidung und die gesellschaftliche Akzeptanz zu überfordern vermag. Es geht deshalb nicht nur um viele neue Gesetze, es geht um sehr viel mehr: um die Wirksamkeit staatlichen Handelns.“

Unternehmensziel: ökologische und soziale Auswirkungen berücksichtigen

Darstellung von Nachhaltigkeit eine Straßenbahn mit blauen Pfeilen
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Bei etlichen Konzernen und Unternehmen ist die Nachhaltigkeit vom Wohlfühlthema der Kommunikationsabteilung längst Teil des Unternehmenskerns geworden. Beispiel: Franz Haniel & Cie., ein 265 Jahre alter Handelsriese in Familienbesitz in Duisburg. Axel Berger ist dort „Digital & Sustainability Lead“. In einem Online-Panel der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen führte er kürzlich aus, was sich hinter diesem Titel verbirgt: Berger unterstützt Beteiligungsgesellschaften, operative Fortschritte bei Nachhaltigkeit und Digitalisierung zu erreichen. Bei Haniel nennen sie das ganz einfach „Investitionen enkelfähig machen“.

Ein Beispiel, wie das gelingen kann, ist die Robert Bosch GmbH: Seit 2020 ist Bosch mit seinen weltweit über 400 Standorten klimaneutral, hat sich dies unabhängig testieren lassen – und setzt sich die nächsten Ziele: Jetzt sollen die vor- und nachgelagerten Emissionen (Scope 3) systematisch verringert werden; bis 2030 um 15 Prozent. „Nachhaltigkeit hört bei Bosch nicht mit der Klimaneutralstellung und der Reduzierung der Scope-3-Emissionen auf. Neben dem Themenfeld Klima setzt sich Bosch auch in anderen Bereichen ehrgeizige Ziele: Hierzu gehört unter anderem auch der sorgsame Umgang mit Wasser und eine Strategie zur Kreislaufwirtschaft, die ökologische und soziale Auswirkungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette berücksichtigt“, so Filiz Albrecht, die 2017 zu Bosch kam und seit Januar 2021 als Geschäftsführerin und Arbeitsdirektorin der Robert Bosch GmbH auch für Umweltschutz und Nachhaltigkeit zuständig ist.

Bosch bekennt sich zu den 17 globalen Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals, SDGs) der Vereinten Nationen. Elf davon hat das Unternehmen als für sich besonders relevant ausgemacht und in einer „Wesentlichkeitsmatrix“ erfasst, die zuletzt 2019 aktualisiert wurde. Dafür wurden mehr als 1000 internationale Stakeholder vom Geschäftspartner über NGO-Vertreter bis hin zu potenziellen Bewerbern gebeten, die Relevanz von Nachhaltigkeitsthemen für Bosch zu beurteilen. In der Außenwahrnehmung hat sich das für Bosch ausgezahlt: Umwelt- und Entwicklungsorganisationen wie „Germanwatch“ und die Stiftung „Zwei Grad“ loben den Automobilzulieferer heute, dem damit auch die Image-Transformation gelungen ist.

ULRICH TÜCKMANTEL
ist Journalist, war bis 2019 Chefredakteur der Westdeutschen Zeitung und arbeitet heute als Pressesprecher.

Investitionsbedarf

Die BDI-Studie „Klimapfade 2.0“ geht zur Umsetzung der Klimaschutzmaßnahmen bis 2030 von notwendigen Investitionen in Höhe von rund 860 Milliarden Euro aus. Das macht rund 100 Milliarden Euro pro Jahr = jährlich knapp 2,5 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts. Bis 2030 sehen die Klimaschutzziele beinahe eine Halbierung der Emissionen gegenüber 2019 vor. Die Studie kommt zu einem klaren Ergebnis: „Die aktuelle Klimapolitik reicht dafür in keinem Sektor aus.“ Ohne Umsteuerungen würde Deutschland bis 2030 etwa 184 Millionen Tonnen CO2 jährlich und damit nur knapp halb so viel wie nötig einsparen. Die aus Sicht des BDI nötige staatliche Unterstützung der Transformation und der Ausgleich entstehender Belastungen für private Haushalte und Unternehmen betragen im Jahr 2030 zwischen 47 und 50 Milliarden Euro. Zwischen 2021 und 2030 beläuft sich die Summe insgesamt auf 230 bis 280 Milliarden Euro. Diese müssten mit Einsparungen im Bundeshaushalt, Abgaben, Steuern oder Schulden finanziert werden.

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