Kann die Energiewende ohne einen massiven Ausbau der Wasserstoffversorgung überhaupt gelingen?
Klare Antwort: Nein! Ohne eine ausgeprägte Wasserstoffwirtschaft wird die zweite Stufe der Energiewende, die Dekarbonisierung, nicht zünden! Und zwar allein schon deshalb nicht, weil etwa 50 Prozent des globalen Endenergiebedarfs gar nicht oder nur schwer zu elektrifizieren sind. Daher muss der ungehinderte Zugang zu Wasserstoff und dessen Derivaten für Unternehmen so selbstverständlich werden wie ein Stromanschluss und schnelles Internet.
Das sieht die Nationale Wasserstoffstrategie aber bisher nicht vor.
Die bisher formulierte Strategie und die Handlungsfelder sind richtig. Nun gilt es, schnell die Regulierung umzusetzen und damit den Bedarf zu stimulieren. Wir dürfen keine Subventionswirtschaft gestalten. Entscheidend ist ein schneller und pragmatischer Start. Für einen gelingenden Markthochlauf und eine effektive Sektorenkopplung kann es in der Startphase nicht so entscheidend sein, ob der Wasserstoff grün oder blau ist; selbst grün ist schattiert. Dabei darf es natürlich kein „Greenwashing“ geben, aber entscheidend ist die CO2-Bilanz! Und die ist bei grünem Wasserstoff immer besser als bei Kohle und Gas. Blauen Wasserstoff sehe ich lediglich als Übergangslösung. Die Zukunft muss grün und nachhaltig sein – wenn wir bei der Farbenlehre bleiben.
Was muss die neue Bundesregierung jetzt sofort tun?
Wichtig ist, dass wir unsere Strategie nicht allein auf Stahl und Chemie konzentrieren – das greift zu kurz. Sie muss auf den industriellen Mittelstand ausgeweitet werden. Dort liegt mit mehr als 300.000 Großfeuerungsanlagen ein riesiges Dekarbonisierungspotenzial, wenngleich nicht zwangsläufig durch Wasserstoff. Eine Beschränkung der Wasserstoffförderung auf wenige Handlungsfelder und Anwendungen ist falsch. Wir brauchen auch nicht noch mehr Pilotregionen, sondern echte und durchgängige Wertschöpfungsketten. Die orientieren sich nicht an Postleitzahlen-Bezirken oder Landesgrenzen. Zudem wird die Umsetzung nicht an der Technologie scheitern. Herausfordernd ist der Mangel an Ressourcen, sowohl an Rohstoffen als auch an erfahrenem Personal. Hier müssen wir schnellstens nachbessern. Und das geht am besten durch „machen“ und nicht durch „Ziele formulieren“.
Ohne Importe wird der deutsche Wasserstoffbedarf nicht zu decken sein, bislang fehlt ein rechtssicherer Zertifizierungsrahmen. Wie sollte sich die EU dazu aufstellen?
Zunächst einmal ist es wichtig, die Kriterien zu definieren und abzusichern, die für eine nachhaltige Wasserstoffwirtschaft gelten sollen. Hier hat es im Nationalen Wasserstoffrat bereits eine Verabschiedung gegeben. Nun gilt es, diese auf ihre Umsetzbarkeit – heißt: als Grundlage für eine Zertifizierung für grüne Wasserstoffprodukte – zu prüfen. Es ist wichtig, hier schnell auf europäischer Ebene zu einer Einigung zu kommen. Das ist nicht einfach, wie wir aus der Vergangenheit wissen, insbesondere, wenn es um Herkunftsnachweise und den realen CO2-Fußabdruck von „grünem Wasserstoff“ geht.
Trauen Sie der EU das zu?
Sie hat gar keine andere Wahl. Die EU und insbesondere auch Deutschland wird ein großer Importeur von grüner Energie werden. Wir müssen alles daran setzen, über Energiepartnerschaften die Versorgungssicherheit zu niedrigen Kosten zu sichern. Hier kommt uns zu Hilfe, dass die Zahl der Länder mit sehr guten Voraussetzungen zur Erzeugung von grünen Wasserstoffprodukten größer ist als die Zahl bisheriger Kohle- und Gasexportländer. Wir brauchen somit sehr schnell einen europäischen Rechtsrahmen, der international anschlussfähig ist. Nationale Alleingänge taugen nicht für den Weltmarkt.
Wie viel darf eine Kilowattstunde kosten, damit Wasserstoff zur Erzeugung von Prozessenergie eine wirtschaftliche Alternative zu fossilen Brennstoffen ist?
Es gibt Anwendungen mit einer höheren Zahlungsbereitschaft, beispielsweise in der Schifffahrt oder der Luftfahrt, die nicht wirklich elektrifiziert werden können, aber auch der Straßenverkehr (Heavy Duty). Persönlich sehe ich synthetische Kraftstoffe als wichtige Übergangsanwendung, weil hier der Umsetzungshebel für eine schnelle Reduktion der CO2-Emissionen extrem groß ist. Danach kommen weitere Applikationen, wie beispielsweise in der Stahlproduktion oder der Chemieindustrie.
Bedeutet das, dass die Wettbewerbsfähigkeit des Wasserstoffs langfristig von einer weiteren Verteuerung fossiler Brennstoffe abhängt?
Nein, das bedeutet, dass wir sehr schnell industriell skalieren und damit die Herstellungskosten für Wasserstoffprodukte erheblich senken müssen. Wasserstoff darf nicht der Champagner der Energiewende werden. Im Gegenteil: Grüner Wasserstoff und dessen Derivate müssen zum Commodity-Produkt werden. Und ich prognostiziere, dass es auch so kommen wird. Eines ist allerdings auch klar: Die Energiepreise der Vergangenheit waren zu gering. Wir müssen uns auf höhere Kosten einstellen und die Besteuerung anpassen. Es darf nicht sein, dass die Steuerlast hier prozentual auf demselben hohen Niveau verbleibt und uns international die Wettbewerbsfähigkeit raubt. Die Steuerlast birgt das realistische Risiko, dass die verarbeitende Industrie sich noch intensiver dorthin verlagert, wo grüne Energie billig und in großen Mengen vorhanden ist.
Im Bereich Mobilität schneidet Wasserstoff bislang deutlich schlechter ab als Strom. Wird Ihr nächstes Auto von einer Batterie oder einer Brennstoffzelle angetrieben?
Es wird elektrisch angetrieben sein – ob mit einer Batterie oder einem Brennstoffzellenantrieb, das entscheidet sich später. Mit der Weiterentwicklung der Batterietechnologie wird es allerdings für die Brennstoffzelle im Pkw–Bereich sehr schwer werden. Da liegen noch große Herausforderungen.
Über Armin Schnettler:
Prof. Dr. Armin Schnettler (Jahrgang 1963) war nach Studium und Promotion (Elektrotechnik, Universität Dortmund) ab 1992 in verschiedenen Positionen innerhalb des ABB-Konzerns in Deutschland tätig, zuletzt bis 2000 als Mitglied der Geschäftsleitung der ABB Business Area „High Voltage Substations“, Zürich. Von 2001 bis 2018 leitete Prof. Schnettler das Institut für Hochspannungstechnik an der RWTH Aachen, bis 2013 gehörte er dem Vorstand der Forschungsgemeinschaft für Elektrische Anlagen und Stromwirtschaft e.V. an. Ab 2013 war er Senior Vice President der Siemens AG Corporate Technology (bis 2016: Leiter „New Technology Fields“, bis 2020: Leiter der „Konzernforschung Energie und Elektronik“). Ab 2020 war er als Executive Vice President und CEO New Energy Business bei Siemens Energy tätig, seit dem 1. Juli 2020 ist Prof. Dr. Armin Schnettler VDE Präsident.