Nervenzellen
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01.10.2023 VDE dialog

Cochlea: Vom Innenohrmikro zum bluetoothfähigen Nervenimplantat

Es ist eines der bekanntesten und besterforschten Implantate, die in der medizinischen Praxis verwendet werden: Das Cochlea-Implantat, mit dem Hörgeschädigte ihre Hörfähigkeit wiedererlangen. In den 1960er-Jahren entwickelt und erprobt, wurde es über die Jahrzehnte immer weiter verbessert. Nun stehen Digitalisierung und Vernetzung der Technologie bevor. Ein Gespräch mit Spitzenforscher Prof. Dr. Thomas Lenarz, Professor an der Medizinischen Hochschule Hannover und Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Biomedizinische Technik (DGBMT) im VDE.

Interview: Julian Hörndlein

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Porträtfoto von Prof. Dr. Thomas Lenarz

HNO-Spitzenforscher Prof. Dr. Thomas Lenarz, Professor an der Medizinischen Hochschule Hannover und Mitglied im Vorstand von VDE DGBMT

| Daniela Beyer

VDE dialog: Sie sind einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Cochlea-Implantate in Deutschland. Wie funktionieren Cochlea-Implantate denn genau?

Prof. Dr. Thomas Lenarz: Das Cochlea-Implantat ist ein Funktionsersatz für unser Innenohr. Das Innenohr ist ein natürliches Mikrofon, das Schallwellen in elektrische Impulse umsetzt, die den Hörnerv anregen. Der Hörnerv transportiert diese Impulse dann zum Gehirn. Die Umwandlung dieser Schallwellen in elektrische Impulse übernehmen im Normalfall die sogenannten Haarzellen. In den meisten Fällen von hochgradiger Schwerhörigkeit fallen diese Haarzellen aus. Das Cochlea-Implantat ersetzt die ausgefallenen Zellen.

Wie funktioniert das technisch?

Das Cochlea-Implantat ist ein Reizsystem, das auf ein Mikrofon zur Aufnahme des Schalls setzt. Mit einem Sprachprozessor wird der Schall in elektrische Impulse umgesetzt, die dann über eine Elektrode auf den Hörnerv übergeleitet werden. Diese künstlichen elektrischen Impulse werden dann genauso an das Gehirn weitergeleitet wie die natürlichen Impulse aus den Haarzellen.

Worin besteht die Herausforderung dabei?

Beim normalen Hörvorgang werden die verschiedenen Frequenzen aus Musik oder Sprache in der Hörschnecke – der Cochlea – durch einen komplizierten Vorgang aufgetrennt. Die einzelnen Frequenzen führen in der Schnecke zu einer Erregung des Hörnervs. Diese Aufteilung der Frequenzen realisiert das Cochlea-Implantat über verschiedene Kontakte auf der Elektrode, denen verschiedene Frequenzen zugeleitet werden. Das ist der Punkt, an dem das Cochlea-Implantat aktuell an seine Grenzen kommt, da man technisch nicht über eine bestimmte Zahl an Kontakten hinauskommt. Aktuell steht man zwischen 12 und 22 Kontakten.

Wie hat sich die Technologie in den vergangenen Jahren entwickelt?

Die Implantate haben sich deutlich verbessert. Die Reizrate, also die Anzahl an Impulsen pro Sekunde, hat sich deutlich erhöht. Außerdem hat man besser verstanden, wie das Sprachsignal auf dem Gehörnerv codiert wird. Das Cochlea-Implantat kann das natürliche Hören heute deutlich besser nachbilden. Bei den Elektroden hingegen ist man bei der herkömmlichen Technologie geblieben, da man dort auf etablierte Materialien und die bekannte Herstellungsweise setzt. Hier setzen Feinmechanik und Mikrotechnologie aktuell Grenzen.

Wird diese Problematik angegangen?

Die Elektrodenkontakte müssen möglichst nah mit dem Nerv verbunden sein. Ideal wäre es, wenn man die Kontakte direkt in den Hörnerv hineinschiebt. Wir sind tatsächlich gerade dabei, ein sogenanntes „Auditory Nerv Implant“ zu entwickeln, mit dem man direkt in den Nerv einsticht. Das ist chirurgisch aber eine große Herausforderung und es ist fraglich, ob es bereits routinemäßig für Chirurgen weltweit geeignet wäre.

Wie steht es bei Cochlea-Implantaten um die Vernetzung?

Cochlea-Implantate sind voll digitale Systeme und setzen auf Konnektivität. Sie sind bluetoothfähig und verwenden aktuelle Standards. Damit ist die direkte Kommunikation etwa mit dem Smartphone möglich. Die Telemedizin erhält dadurch neue Chancen. Auch Hörtests oder Anbindung an andere Audiotechnologien sind möglich. Der Patient kann seine Systeme über Apps zum Teil selbst einstellen.

Wie profitiert die Medizin?

Die Implantate sind elektrische Stimulatoren, die es ermöglichen, Selbsttests durchzuführen. Durch solche Selbsttests können wir aus der Ferne feststellen, ob Probleme auftreten. Darüber können dann frühzeitig Warnungen oder Empfehlungen ausgesprochen werden. Außerdem erhalten die Ärzte großen Einblick in die Nutzung des Cochlea-Implantats. Führt man die Daten von vielen Patienten zusammen, spielt Künstliche Intelligenz eine große Rolle bei der Datenauswertung. Diese Nutzerdaten können in Neuentwicklungen fließen. Auch Prädiktionsmodelle für künftige Patienten werden dadurch möglich.

Wie steht es um die Kommunikation von Implantaten untereinander?

Natürlich haben wir zwei Ohren, man ist also bestrebt, immer das beste Hörsystem zu nutzen. Besitzt man auf beiden Seiten ein Cochlea-Implantat, dann sprechen die Implantate miteinander. Aber auch ein Hörgerät auf der anderen Seite kann auf das Implantat abgestimmt sein. Das ist keine Zukunftsmusik mehr: Der Trend geht auf jeden Fall zu mehr Vernetzung. Der Implementierungsgrad je nach Unternehmen unterscheidet sich jedoch aktuell noch.

Wie sieht denn die Zukunft von Cochlea-Implantaten aus?

Aktuell hat man nur die Hörperipherie im Auge, das Hören findet aber ja im Gehirn statt. Die Hörvorgänge im Gehirn können über EEG gemessen werden. Anteile des EEGs werden genutzt, um zu optimieren, was am Hörnerv als Stimulation genutzt wird. Cochlea-Implantate werden deshalb in naher Zukunft auch Messelektroden haben, die man bei der Implantation über den Hörkortex legt. Das Cochlea-Implantat leitet dann auch EEG ab. Über das Implantat können außerdem biologische Substanzen ins Innenohr eingeführt werden, wodurch das Implantationstrauma verringert wird. Außerdem geht die Entwicklung hin zu voll implantierbaren Systemen. Das bedeutet, dass der externe Prozessor mit in den Körper wandert, um das „invisible hearing“ Realität werden zu lassen.


Prof. Dr. med. Thomas Lenarz lehrt und forscht an der Medizinischen Hochschule Hannover. Das dort von ihm gegründete Deutsche HörZentrum (DHZ) ist eine der führenden Institutionen für die Implantation von Cochlea-Implantaten mit inzwischen mehr als 11.000 versorgten Patienten. Im Interview spricht Lenarz über den aktuellen Stand der Technologie – und welche Vorteile die Vernetzung ins Ohr bringt.