Digitale Darstellung eines Urbanen Zwilling
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01.10.2023 VDE dialog

Digitale Zwillinge: Die doppelte Stadt

In der Industrie gibt es sie längst, jetzt verdoppeln sich auch Städte. Mithilfe urbaner digitaler Zwillinge soll von Baumbestand bis Verkehr alles Mögliche erfasst werden, was in einem Ort passiert – und dank umfangreicher Vernetzung effizient für die Stadtentwicklung genutzt werden.

Von Julian Hörndlein

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Dienstagnachmittag zwischen 16 und 18 Uhr in Nürnberg: Die Menschen sind mit ihrer Arbeit fertig und machen sich auf den Heimweg durch die 550.000-Einwohner-Stadt im Norden Bayerns. Die Folge: Staus. Die Stadtautobahn A73 ist verstopft, in der U-Bahn drängen sich die Massen. An praktisch jedem Nachmittag kommt es zu ähnlichen Verkehrsbehinderungen. In Zukunft könnte sich das ändern. Dann nämlich, wenn Nürnberg sich verdoppelt. Rein virtuell natürlich, mit der Schaffung eines digitalen Zwillings der Stadt. Er ist das digitale Abbild mit Verkehrsströmen, Gebäuden und Grünflächen und vielem mehr. In der gleichzeitigen Erfassung und Abbildung von Personen-, Fahrzeug- und Warenbewegungen liegt ein enormes Potenzial: Erfasst man die Bewegungsdaten über die gesamte Stadt hinweg, lassen sich Verkehrsströme nachvollziehen, simulieren und lenken. Dann könnte sich etwa zeigen, welch großes Hindernis die eine oder andere Baustelle tatsächlich ist. Verkehr ist nur ein Teil des Potenzials: Über die Erfassung von Photovoltaikanlagen wird die städtische Energiewende gesteuert, Nutzungsdaten erlauben die zielgerechte Planung ganzer Quartiere.

Jeder U-Bahn-Fahrgast ist ein Datenspender

Nürnberg hat dazu beim von der Europäischen Union geförderten Projekt „twi.N City“ mitgemacht, das die Entwicklung eines geodatenbasierten Stadtmodells zum Ziel hat. Die Hoffnung ist, anhand der Daten Rückschlüsse auf die Frequentierung und Attraktivität der Innenstadt ziehen zu können. Eingebunden war auch der städtische Verkehrsbetreiber, die VAG. Denn spätestens seit in Nürnberg 2008 eine fahrerlose und vollautomatisierte U-Bahn in Betrieb genommen wurde, war diese schon auf umfangreiche Datenerfassung und -nutzung angewiesen – lange bevor man in Städten den Begriff des digitalen Zwillings verwendet hat. „Vernetzung ist überall“, sagt Andreas May, der sich auch als Projektleiter um die Realisierung der fahrerlosen U-Bahn gekümmert hat und nun Betriebsleiter Schiene bei der VAG ist. Für ihn ist der reine Fahrbetrieb nur ein Teil der Datenmöglichkeiten. Jeder Fahrgast in der U-Bahn ist ein Datenspender. Die Menschen verursachen bei ihrer Reise durch die Stadt Bewegungsdaten, die Aufschluss über die Verkehrsströme in der ganzen Stadt geben können.

Im „twi.N City“ wurden die Daten der VAG ergänzt mit solchen der Belegung von Parkhäusern und Wetterdaten. So entsteht ein umfassendes Bild dessen, was in der Stadt los ist. Zum Beispiel auf der Adlerstraße in der Nürnberger Innenstadt. Sie liegt zwischen zwei an U-Bahnstationen installierten Zählstellen. Ein Dashboard zeigt die Daten an: 39.797 Passanten durchqueren das Areal rund um die Adlerstraße im Schnitt täglich, die Verweildauer ist hoch. Gleichzeitig zeigt die Parkhausbelegung, wie viele Menschen mit dem Auto in die Innenstadt fahren. Die Adlerstraße ist ein Pilotprojekt dafür, wie Daten erfasst und zusammengebracht werden können, um später Maßnahmen für die Steigerung der Attraktivität ableiten zu können.

Nürnberg ist nur eine von vielen Städten, die sich an die Schaffung eines urbanen digitalen Zwillings heranwagen. Aktuell laufen etliche Initiativen über die gesamte Bundesrepublik hinweg, bis März 2024 entstehen allein in Bayern 18 urbane digitale Zwillinge im Förderprojekt TwinBy. Dabei geht das Konzept des digitalen Zwillings bereits viele Jahre zurück und entstand mit den Möglichkeiten von Digitalisierung und Datenerfassung. Der digitale Zwilling soll ein Abbild einer in der physischen Welt vorhandenen Struktur sein. Durch ihn werden Simulationen von Anpassungen möglich, außerdem zeigen sich Abhängigkeitsverhältnisse zwischen unterschiedlichen Organisationen auf den ersten Blick.

Redundante Datenhaltung vermeiden

Dabei gibt es allerhand Hürden zu meistern, denn bisher waren die Daten in Städten häufig als Insellösungen gespeichert – die Stadtwerke haben dann etwa nicht mit der Bauplanung gesprochen. Eine große Herausforderung ist das Fehlen notwendiger Schnittstellen. Das Bayerische Staatsministerium für Digitales hat deshalb zusammen mit der Technischen Universität München im Projekt TwinBy einen Leitfaden erstellt, an dem sich Kommunen orientieren können. Mehr als 80 Seiten umfasst das Dokument, das den Prozess anhand des Konzepts der Smart Data District Infrastructure (SDDI) beschreibt. Das Ziel von SDDI ist, Plattformen durch offene standardisierte Schnittstellen zusammenzubringen. Dadurch soll die Interoperabilität zwischen den verschiedenen Akteuren steigen und eine redundante Datenhaltung vermieden werden. Die Kreation eines digitalen Zwillings ist nicht zuletzt ein schwieriges Unterfangen, das Unterstützung benötigt. Kommunen arbeiten deshalb häufig mit externen Dienstleistern aus der Datenerfassung zusammen. Der digitale Zwilling bildet einen Grundstein für eine sektorenübergreifende Datenstruktur sowie der anwendungsorientierten Verknüpfung von bestehenden Modellen, Daten, Sensoren und deren Nutzung für komplexe Planungsszenarien.

Ein Vorteil auch für kleinere Städte

Von Leitfäden wie dem von TwinBy profitieren nicht nur Großstädte wie Nürnberg. Auch in Forchheim, einer Kreisstadt mit 34.000 Einwohnern etwa 30 Kilometer nördlich der Frankenmetropole, wurde im Frühjahr ein digitaler Zwilling vorgestellt, der der Bevölkerung frei zur Verfügung steht. Dazu hat die Stadt mit der RIWA GmbH als Dienstleister zusammengearbeitet, die digitale Geodatenerfassung anbietet. Im digitalen Zwilling sehen Nutzer nun das Baumkataster, Parkplätze, Spielplätze und leerstehende Gebäude. Sogar rechtskräftige Bebauungspläne sind hinterlegt. „Wir haben die Vorgabe, dass wir eine geordnete Dateninfrastruktur schaffen, in die auch alle Ämter eingebunden werden“, erklärt Matthias Hoffmann, der den digitalen Zwilling in Forchheim verantwortet. Denn auch in Forchheim sah man sich dem Umstand gegenübergestellt, dass es mehrere Datensilos gab, die aber keinen Austausch ermöglichten. Der digitale Zwilling bietet das nun: Allerhand Ämter – vom Grünflächenamt bis zum Citymanagement – greifen gemeinsam auf die Plattform zu und tauschen so ihre Daten aus.


Ausschnitt der Plattform für den Digitalen Zwilling der Stadt Forchheim

Die Kreisstadt Forchheim im Norden Bayerns hat einen Digitalen Zwilling entwickelt, der öffentlich zugänglich ist. Dort können unter anderem Park- und Spielplätze, aber auch leerstehende Gebäude und rechtskräftige Bebauungspläne abgerufen werden.

| Stadt Forchheim Kdör

Für Hoffmann ist der Zwilling auch die richtige Möglichkeit, um in Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern zu treten. „Die Digitalisierung sorgt für Transparenz“, erklärt er. Künftig sollen die Einwohner noch stärker von den Daten profitieren, Hoffmann und die Stadtverwaltung möchten dann etwa einen digitalen Bauantrag bereitstellen. Für die Zukunft sieht er weiteres Potenzial: Durch die im Baumkataster gespeicherte Information über die vorhandene Biomasse ist eine Kohlendioxiderfassung möglich. Die Stadtplanung kann das nutzen, um den urbanen Raum künftig nachhaltiger und lebenswerter zu gestalten. Außerdem sieht Hoffmann einen klaren Trend zur Kommunikation von verschiedenen digitalen Zwillingen untereinander: „Es wird eine Vernetzung der Zwillinge geben“, ist er sich sicher.

Leipzig, Hamburg und München im Austausch

Dass die digitalen Zwillinge verschiedener Städte zusammenhängen, ist keinesfalls Zukunftsmusik. Tatsächlich läuft aktuell das Forschungsprojekt „Connected Urban Twins“ (CUT), bei dem die Städte Hamburg, München und Leipzig zusammenarbeiten. „Wir sehen eine riesige Chance in der interkommunalen Zusammenarbeit“, erklärt Mirko Mühlpfort, Projektleiter von Connected Urban Twins im Referat Digitale Stadt in Leipzig. Einen großen Vorteil von digitalen Zwillingen sieht Mühlpfort in der nachhaltigen Stadtentwicklung. Über das digitale Abbild werden Solarpotenziale abgebildet, die Wärme- und Energieplanung vereinfacht. Wenn die Städte aufgrund des Klimawandels künftig immer heißer werden, werden über den digitalen Zwilling Frischluftschneisen geplant. Es geht aber nicht nur um energetische Themen, stattdessen adressieren die Zwillinge das Leben in der Stadt als Ganzes. In der Infrastrukturplanung kann sofort abgelesen werden, wie die Erreichbarkeit etwa von Kindertagesstätten ist. Die Ergebnisse fließen schließlich in die Kitanetzplanung ein, was letztlich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern kann.

Die Hauptaufgabe im Projekt CUT besteht darin, existierende Lösungen zusammenzuführen. „Die technischen Lösungen sind im Wesentlichen alle entwickelt“, erzählt Mühlpfort. Diese digitalen Produkte nun zu bündeln, sei die Aufgabe eines jeden Projektteams, das sich mit der Schaffung von digitalen Zwillingen beschäftigt. Tatsächlich ist es aktuell so, dass beim Aufkommen der Idee eines digitalen Zwillings nicht immer alle sofort mit an Bord sind. „Das braucht Überzeugungsarbeit“, meint Mühlpfort. Denn schließlich wirkt es für Unternehmen erst einmal abschreckend, die eigenen Daten zu teilen. Für Mühlpfort ist es die Arbeit aber wert, denn am Ende stehen lebenswertere, baulich optimierte und verkehrsärmere Städte. Natürlich müssen die erhobenen Daten auch sicher sein, es darf nicht zu Missbrauch kommen. Diese Sicherheit kann dann auch einen Einfluss auf die Akzeptanz der digitalen Zwillinge haben. In Nürnberg etwa ist die digitale Infrastruktur der U-Bahn komplett abgekapselt von anderen Netzen im Umfeld, die über WLAN erreichbar wären. Gleichzeitig muss die Bevölkerung im Prozess mitgenommen werden. Wenn in den U-Bahnstationen die Besucherströme erfasst werden, muss die Absicht dahinter klar sein. „Aus der Bevölkerung sind uns keine Bedenken bezüglich der Datenerhebung bekannt“, heißt es aber vonseiten der Nürnberger Stadtverwaltung im Projekt twi.N City. Es würden keine personenbezogenen Daten erhoben.

Bevölkerung mit einbeziehen

Dass die Menschen in der Stadt mit in den Prozess einbezogen werden müssen, ist auch Forschungsgegenstand des City Science Labs der HafenCity Universität Hamburg (HCU), das am Projekt CUT beteiligt ist. Dort plädiert Wissenschaftler Till Degkwitz dafür, immer den Nutzen der digitalen Zwillinge zu sehen: „Digitale Zwillinge haben keinen Selbstzweck“, meint er. Stattdessen sollte man sich eher vor Augen führen, in welchen Bereichen digitale Zwillinge ihre Stärken ausspielen können. In Hamburg liegt dabei ein großer Fokus auf dem Sozialen und der Bürgerbeteiligung. Denn Daten der Menschen in der Stadt selbst sind für digitale Zwillinge von großer Bedeutung. „Die offiziellen Daten der Stadt bilden nur einen Teil der Realität ab“, erklärt er. Daten wie jene rund um die unbezahlte Sorgearbeit aus der Zivilgesellschaft würden aber großen Aufschluss über das Zusammenleben in der Stadt bieten. Digitale Zwillinge helfen in Hamburg auch bei der sozialräumlichen Planung von Kitas, Schulen und Grünflächen.

Künstliche Intelligenz wird schon mitgedacht

In Zukunft kann sich Degkwitz vorstellen, dass auch Technologien der Künstlichen Intelligenz in die Zwillinge fest verankert werden können. Dann könnten etwa die Ampelschaltungen flächendeckend, intelligent und in Echtzeit auf das aktuelle Verkehrsgeschehen reagieren. Degkwitz warnt allerdings vor zu großer Euphorie. „Ich glaube, dass es bis dahin noch ein weiter Weg ist“, erklärt er. Dennoch: Digitale Zwillinge spielen jetzt schon ihre Stärken aus und werden künftig nicht mehr wegzudenken sein. „Sie sind einfach tolle Unterstützungswerkzeuge“, so Degkwitz. In Leipzig stimmt ihm Projektleiter Mirko Mühlpfort zu: „Ohne digitale Zwillinge ist eine integrierte Stadtentwicklung künftig nicht mehr möglich.“


Julian Hörndlein ist freiberuflicher Technik-Journalist in Nürnberg.