Dienstagnachmittag zwischen 16 und 18 Uhr in Nürnberg: Die Menschen sind mit ihrer Arbeit fertig und machen sich auf den Heimweg durch die 550.000-Einwohner-Stadt im Norden Bayerns. Die Folge: Staus. Die Stadtautobahn A73 ist verstopft, in der U-Bahn drängen sich die Massen. An praktisch jedem Nachmittag kommt es zu ähnlichen Verkehrsbehinderungen. In Zukunft könnte sich das ändern. Dann nämlich, wenn Nürnberg sich verdoppelt. Rein virtuell natürlich, mit der Schaffung eines digitalen Zwillings der Stadt. Er ist das digitale Abbild mit Verkehrsströmen, Gebäuden und Grünflächen und vielem mehr. In der gleichzeitigen Erfassung und Abbildung von Personen-, Fahrzeug- und Warenbewegungen liegt ein enormes Potenzial: Erfasst man die Bewegungsdaten über die gesamte Stadt hinweg, lassen sich Verkehrsströme nachvollziehen, simulieren und lenken. Dann könnte sich etwa zeigen, welch großes Hindernis die eine oder andere Baustelle tatsächlich ist. Verkehr ist nur ein Teil des Potenzials: Über die Erfassung von Photovoltaikanlagen wird die städtische Energiewende gesteuert, Nutzungsdaten erlauben die zielgerechte Planung ganzer Quartiere.
Jeder U-Bahn-Fahrgast ist ein Datenspender
Nürnberg hat dazu beim von der Europäischen Union geförderten Projekt „twi.N City“ mitgemacht, das die Entwicklung eines geodatenbasierten Stadtmodells zum Ziel hat. Die Hoffnung ist, anhand der Daten Rückschlüsse auf die Frequentierung und Attraktivität der Innenstadt ziehen zu können. Eingebunden war auch der städtische Verkehrsbetreiber, die VAG. Denn spätestens seit in Nürnberg 2008 eine fahrerlose und vollautomatisierte U-Bahn in Betrieb genommen wurde, war diese schon auf umfangreiche Datenerfassung und -nutzung angewiesen – lange bevor man in Städten den Begriff des digitalen Zwillings verwendet hat. „Vernetzung ist überall“, sagt Andreas May, der sich auch als Projektleiter um die Realisierung der fahrerlosen U-Bahn gekümmert hat und nun Betriebsleiter Schiene bei der VAG ist. Für ihn ist der reine Fahrbetrieb nur ein Teil der Datenmöglichkeiten. Jeder Fahrgast in der U-Bahn ist ein Datenspender. Die Menschen verursachen bei ihrer Reise durch die Stadt Bewegungsdaten, die Aufschluss über die Verkehrsströme in der ganzen Stadt geben können.
Im „twi.N City“ wurden die Daten der VAG ergänzt mit solchen der Belegung von Parkhäusern und Wetterdaten. So entsteht ein umfassendes Bild dessen, was in der Stadt los ist. Zum Beispiel auf der Adlerstraße in der Nürnberger Innenstadt. Sie liegt zwischen zwei an U-Bahnstationen installierten Zählstellen. Ein Dashboard zeigt die Daten an: 39.797 Passanten durchqueren das Areal rund um die Adlerstraße im Schnitt täglich, die Verweildauer ist hoch. Gleichzeitig zeigt die Parkhausbelegung, wie viele Menschen mit dem Auto in die Innenstadt fahren. Die Adlerstraße ist ein Pilotprojekt dafür, wie Daten erfasst und zusammengebracht werden können, um später Maßnahmen für die Steigerung der Attraktivität ableiten zu können.
Nürnberg ist nur eine von vielen Städten, die sich an die Schaffung eines urbanen digitalen Zwillings heranwagen. Aktuell laufen etliche Initiativen über die gesamte Bundesrepublik hinweg, bis März 2024 entstehen allein in Bayern 18 urbane digitale Zwillinge im Förderprojekt TwinBy. Dabei geht das Konzept des digitalen Zwillings bereits viele Jahre zurück und entstand mit den Möglichkeiten von Digitalisierung und Datenerfassung. Der digitale Zwilling soll ein Abbild einer in der physischen Welt vorhandenen Struktur sein. Durch ihn werden Simulationen von Anpassungen möglich, außerdem zeigen sich Abhängigkeitsverhältnisse zwischen unterschiedlichen Organisationen auf den ersten Blick.
Redundante Datenhaltung vermeiden
Dabei gibt es allerhand Hürden zu meistern, denn bisher waren die Daten in Städten häufig als Insellösungen gespeichert – die Stadtwerke haben dann etwa nicht mit der Bauplanung gesprochen. Eine große Herausforderung ist das Fehlen notwendiger Schnittstellen. Das Bayerische Staatsministerium für Digitales hat deshalb zusammen mit der Technischen Universität München im Projekt TwinBy einen Leitfaden erstellt, an dem sich Kommunen orientieren können. Mehr als 80 Seiten umfasst das Dokument, das den Prozess anhand des Konzepts der Smart Data District Infrastructure (SDDI) beschreibt. Das Ziel von SDDI ist, Plattformen durch offene standardisierte Schnittstellen zusammenzubringen. Dadurch soll die Interoperabilität zwischen den verschiedenen Akteuren steigen und eine redundante Datenhaltung vermieden werden. Die Kreation eines digitalen Zwillings ist nicht zuletzt ein schwieriges Unterfangen, das Unterstützung benötigt. Kommunen arbeiten deshalb häufig mit externen Dienstleistern aus der Datenerfassung zusammen. Der digitale Zwilling bildet einen Grundstein für eine sektorenübergreifende Datenstruktur sowie der anwendungsorientierten Verknüpfung von bestehenden Modellen, Daten, Sensoren und deren Nutzung für komplexe Planungsszenarien.
Ein Vorteil auch für kleinere Städte
Von Leitfäden wie dem von TwinBy profitieren nicht nur Großstädte wie Nürnberg. Auch in Forchheim, einer Kreisstadt mit 34.000 Einwohnern etwa 30 Kilometer nördlich der Frankenmetropole, wurde im Frühjahr ein digitaler Zwilling vorgestellt, der der Bevölkerung frei zur Verfügung steht. Dazu hat die Stadt mit der RIWA GmbH als Dienstleister zusammengearbeitet, die digitale Geodatenerfassung anbietet. Im digitalen Zwilling sehen Nutzer nun das Baumkataster, Parkplätze, Spielplätze und leerstehende Gebäude. Sogar rechtskräftige Bebauungspläne sind hinterlegt. „Wir haben die Vorgabe, dass wir eine geordnete Dateninfrastruktur schaffen, in die auch alle Ämter eingebunden werden“, erklärt Matthias Hoffmann, der den digitalen Zwilling in Forchheim verantwortet. Denn auch in Forchheim sah man sich dem Umstand gegenübergestellt, dass es mehrere Datensilos gab, die aber keinen Austausch ermöglichten. Der digitale Zwilling bietet das nun: Allerhand Ämter – vom Grünflächenamt bis zum Citymanagement – greifen gemeinsam auf die Plattform zu und tauschen so ihre Daten aus.