Die Erkenntnisse sind nicht neu, aber der Versuch, Abhilfe zu schaffen. Der Chemiekonzern BASF hat im Mai den dualen Ingenieurstudiengang Elektrotechnik mit der Fachrichtung Energietechnik gestartet. Man schreite mit großen Schritten bei der Energiewende voran, heißt es aus Ludwigshafen, dabei spiele die Erzeugung regenerativer elektrischer Energie, deren Speicherung, Übertragung und Verteilung eine Schlüsselrolle. „Mit der Ausbildung heute gestalten wir die Zukunft von morgen“, sagt Dr. Markus Hermann, Leiter der Aus- und Weiterbildung bei BASF, „deshalb entwickeln wir sie immer weiter, nehmen neue Berufsfelder ins Portfolio und lassen in unserem Ausbildungsengagement auch aktuell nicht nach.“
Also ein weiterer dualer Studiengang als Hilfe zur Selbsthilfe, diesmal initiiert aus der Industrie. Denn deutschlandweit gleicht sich das Bild: Der Bedarf an Elektrotechnik-Nachwuchs ist quer durch alle Branchen enorm. Doch der Zustrom gerät ins Stocken. Bereits heute fehlen pro Jahr etwa 12.000 Ingenieurinnen und Ingenieure mit unlängst erfolgreich abgeschlossenem Studium, meldet der VDE. Immerhin: Gut 18.800 Erstsemester entschieden sich 2021 (Sommer und Winter) für die Elektro- und Informationstechnik. Aber: Zahlreiche Studierende schaffen es nicht bis zum Bachelor- oder gar Masterabschluss, weiß VDE Arbeitsmarktexperte Dr. Michael Schanz – die Quote derer, die die akademische Ausbildung abbrechen, liegt nach seinen Berechnungen bei 60 bis 70 Prozent. Und die Zahlen bedeuten auch, dass sich nur 3,5 Prozent aller Studienanfängerinnen und Studienanfänger in Deutschland für die Elektro- und Informationstechnik entschieden. 2012 lag der Anteil noch bei 5,4 Prozent, so Schanz.
Wissenschaftler, Unternehmensverantwortliche und Verbandsvertreter beobachten die Entwicklung mit Sorge. Doch welche Formel löst die Probleme? Wer an Hochschulen fragt, der hört: Im Alltagstrubel zwischen Forschung, Lehre und Drittmittelprojekten bleibt häufig zu wenig Zeit, um sich dem Problem der fehlenden Anfängerinnen und Anfänger strategisch anzunehmen. Doch alle Beteiligten haben erkannt, dass die Zeit zum Handeln gekommen ist. Klar ist: Benötigt werden eine analytische Herangehensweise, kreative Lösungen und vor allem ein langer Atem: „Das Problem ist sicher nicht von heute auf morgen lösbar – aber wir hätten gestern damit anfangen müssen“, sagt Dr. Martina Hofmann, Professorin für Erneuerbare Energien an der Hochschule Aalen und Vorsitzende des VDE Ausschusses „Studium, Beruf und Gesellschaft“.
Viel Auswahl und ein breites Angebot für Studieninteressierte
Das Studienangebot ist so groß wie breit: Mehr als 30 Universitäten und Technische Hochschulen haben sich im Fakultätentag für Elektrotechnik und Informationstechnik (FTEI) zusammengeschlossen. Dazu kommen zahlreiche Angebote von Fachhochschulen in ganz Deutschland. Insgesamt weist der „Hochschulkompass“ der Hochschulrektorenkonferenz allein 247 grundständige Bachelorstudiengänge aus, in denen Elektrotechnik eine bedeutende Rolle spielt. Die Möglichkeiten reichen von Lübeck an der Ostsee bis Konstanz am Bodensee, von Kaiserslautern bis Cottbus, von „Allgemeiner Elektrotechnik“ bis „Wirtschaftsingenieurwesen Nachhaltigkeit und Technik“. Im Prinzip könnten Studieninteressierte frei wählen – lieber großer Hörsaal und pulsierende Stadt oder ruhigere Kleinstadt und kompakte Kurse?
Das Problem: Immer weniger Schulabsolventinnen und -absolventen ziehen die Elektro- und Informationstechnik überhaupt in Erwägung. Im Auftrag des VDE, des FTEI und des Fachbereichstags Elektrotechnik und Informationstechnik hat das Internationale Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen nicht nur knapp 1200 E-Technik-Studierende und mehr als 100 Studienabbrecher befragt, sondern zusätzlich 50 Schülerinnen und Schüler mit sehr guten Noten in Mathe, Physik und Informatik. Diese sogenannten High Potentials müssten prädestiniert sein für ein solches Studium.
Elektrotechnik als attraktive Karrierechance präsentieren
Doch die Analyse offenbart: Das Bild vom Studienfach hängt mächtig schief. „Elektroingenieure installieren Lampen“, ist der erste Studienband überschrieben. Assoziiert wird dieser Ausbildungsweg vor allem mit handwerklichen Aufgaben – wenn überhaupt. Zum einen können sich junge Menschen nicht vorstellen, was sich hinter dem Studiengang genau verbirgt oder welche Karrieren er eröffnen kann. Zum anderen werde das Fach von potenziellen Einsteigerinnen und Einsteigern kaum mit Innovationskraft und Zukunft verbunden, notieren die Forscher. „Wir haben immer für den Studiengang mit seinen tollen Fächern geworben – aber nie gezeigt, wie der Arbeitsalltag später aussieht“, sagt Hochschullehrerin Hofmann selbstkritisch.
Dabei eröffnet das Fach gerade heute attraktive Karrierechancen – in kleinen Fertigungen oder in globalen Konzernen, in der Forschung wie in der Produktion. Und das sogar in Bereichen wie der Halbleiterentwicklung oder dem Ausbau der regenerativen Energien, die viele junge Leute mit großem Interesse verfolgen und wichtig nehmen. „Heute bringen die Jugendlichen unser Fach nicht zusammen mit den großen Themen unserer Zeit“, sagt VDE Ausbildungsexperte Schanz.
Die erste Idee: Eine Kampagne soll aufzeigen, welche vielfältigen Berufswege und -alltage den Jugendlichen offenstehen, wenn sie sich für ein Elektrotechnikstudium entscheiden. Die Federführung will der VDE selbst übernehmen: „Wir müssen eine ganze Generation erreichen, da kommen wir nicht mehr daran vorbei, werblich im Sinne von ‚push‘ zu sein“, sagt Schanz. Beispielsweise sollen kurze Clips für soziale Medien aufbereitet werden. Je praxisnäher, je populärer, desto besser: „Es fällt mir kein Film ein, in dem der Protagonist ein Elektrotechniker ist“, sagt Hofmann – nur halb im Scherz.
Klar ist jedoch: Auf alle Beteiligten kommt mehr Arbeit zu, wenn die Werbungsbemühungen verstärkt werden. Konzern BASF berichtet vom „Speeddating“ für verschiedene Ausbildungswege, von speziellen Aktionstagen für die dualen Studiengänge, von der Präsenz auf Karrieremessen und Personalmarketingkampagnen in den sozialen Netzwerken. Noch gäbe es keine Probleme, die dualen Studienplätze zu besetzen: „Jedoch wird die Rekrutierung geeigneter Bewerbender insbesondere im Bereich Technik zunehmend aufwendiger“, teilt das Unternehmen auf Anfrage mit.
Von Infoveranstaltung bis Instagram: Werbung auf allen Kanälen
Das spüren auch Hochschulen – und sind auf Berufsinformationstagen wie bei Instagram unterwegs. Ein Ansatz: Je früher der Kontakt, desto besser. „Der Austausch mit den Schulen bringt den größten Hebel“, sagt VDE Ausschussvorsitzende Hofmann, „es muss gelingen, den zu institutionalisieren.“
Die Hochschule Mittweida hat dafür den „Speed-Bachelor“ eingeführt: Schülerinnen und Schüler der neunten bis elften Klasse sollen im Sommer in Studiengänge hineinschnuppern können. Prof. Dr. Michael Kuhl freut sich auf jede Gelegenheit, bei Kinderunis auf die Elektro- und Informationstechnik aufmerksam zu machen: „Wir müssen stärker sichtbar machen, was man als Ingenieur alles erreichen kann“, sagt der Studiendekan für Elektrotechnik-Automation an der Hochschule Mittweida.
Praxisbezug und echte Begeisterung, um das Studium zu packen
Er wirbt aktuell für den frisch gestarteten Studiengang „Responsible Consumption and Production“. Neben dem Basiswissen in Elektrotechnik gehören Kurse in interkultureller Kommunikation zum Curriculum, dazu kommt ein Semester an einer Partneruni in Europa sowie die Abschlussarbeit in einem global aufgestellten Unternehmen.
Ein spannendes Angebot. Und der Versuch, für Studienanfängerinnen und -anfänger sowie Unternehmen ein attraktives Paket zu schnüren. „Wir wollen die Studierenden dazu motivieren, von Anfang an die internationale Karriere mitzudenken“, sagt Kuhl, „das ist auch etwas, was die Industrie heute von den Berufsanfängern ein Stück einfordert.“ Ein Weg, den zahlreiche Hochschulen in den vergangenen Jahren gegangen sind: Statt mit dem allgemeinen Angebot eines Elektrotechnikstudiums zu werben, gibt es immer wieder stärker fokussierte Studiengänge, wie in Mittweida. Häufig geht es um interdisziplinäre Ansätze.
Diese Strategie soll das Thema fassbarer für die potenziellen Bewerberinnen und Bewerber machen – und bietet den Hochschulen einen einfachen Weg, sich von der akademischen Konkurrenz abzusetzen. Klar ist jedoch: In den ersten Semestern führt kein Weg an den Grundlagen in Elektrotechnik oder Mathematik vorbei, egal welches Label auf dem Bachelorstudiengang steht. Und birgt damit das Risiko, dass Studierende sich nach einiger Zeit enttäuscht abwenden – oder aufgrund fachlicher Schwierigkeiten aufgeben müssen.