Smart industry 4.0
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19.03.2021 INDUSTRIE 4.0 Publikation

ÜBER DEN RAND – EDGE UND KI IM IIOT

Wer die Industrie 4.0 verpasst, verschläft die Zukunft. Aber sind die Geister des Industrial IoT geweckt, muss man sie auch zähmen können. Während die Zahl vernetzter Geräte und mit ihr die Datenmenge exponentiell wächst, stehen produzierende Unternehmen vor immer komplexeren Aufgaben.

VON MATTHIAS LAASCH

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Das Corona-Jahr 2020 hat uns vor Augen geführt: Prozesse, die einer Exponentialfunktion folgen, sind kaum zu bremsen. Da sich ihre Dynamik im Allgemeinen unserer Vorstellungskraft entzieht, fällt es uns schwer, ihre Auswirkungen einzuschätzen. Die Verbreitung von Viren, wie SARS-CoV-2, aber auch Bakterienpopulationen, der radioaktive Zerfall, gepulste Laser und der Zinseszins folgen dieser Mathematik. Mit dem digitalen Wandel und der Vernetzung unserer Gesellschaft im Internet of Things unterliegt nun faktisch die gesamte technische Welt, einschließlich der industriellen Fertigung, einem exponen­tiellen Regime. In Zahlen bedeutet dies, dass bis 2030 etwa 50 Milliarden „Things“ im weltweiten Netz verbunden sein werden. Und das ist nur des Eisbergs Spitze. Denn auch dann wird die große Mehrheit aller Geräte, Instrumente und Maschinen noch immer in herkömmlichen lokalen Domänen arbeiten – und darauf warten, durch (Indus­trial-) IoT-Knoten, wie cyberphysische Systeme (CPS), ersetzt zu werden.

Die zentrale Frage: Wer traut der Cloud?

Dieses sich selbst beschleunigende Anwachsen der Zahl intelligenter Netzwerkknoten, Sensoren und sonstiger CPS widerspiegelt die Komplexitätszunahme mikroelektro­nischer Schaltungen in der Halbleiterindustrie, die bekanntlich dem Moore’schen Gesetz folgt. In dessen Konsequenz können CPS im Produktionsumfeld schon heute Datenmengen erzeugen, die mit den bisher etablierten Methoden, in den Serverfarmen einer zentralisierten Cloud, kaum zu bewältigen sind. Denn zum einen steigern die „Big Data“ den Datenverkehr, den nötigen Speicherplatz und somit den Energiebedarf der Rechenzentren auf dramatische Weise. Zum anderen widersprechen die Latenz und der fehlende Determinismus einer Cloudumgebung grundsätzlich den Hochverfügbarkeits- und Echtzeitanforderungen auf dem Shopfloor einer modernen Produktion.

Dem Cybersecurity-Insider Rod Beckstrom, von 2009 bis 2012 CEO der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN), wird eine Aussage zugeschrieben, welche die Gefährdung cyberphysischer Systeme im (Industrial) IoT sehr dramatisch verdeutlicht:

  1. Anything connected to the Internet can be hacked.
  2. Everything is being connected to the Internet.
  3. Follows from the former two.

Beckstroms korrekte Formulierung ist weniger plakativ, warnt aber dennoch eindringlich: Mit der Menge vernetzter Geräte – etwa der CPS in einer Smart Factory – steigt die Zahl potenzieller Fehlerquellen und Angriffspunkte in gleicher Weise. Denn jegliches Thing im IoT ist potenziell angreifbar, sodass die Cyberkriminalität eine nie dagewesene Dynamik erreicht: indem man ihr ein neues Maß an Sicherheit entgegensetzt, das wieder neue kriminelle Attacken hervorruft, denen man wiederum begegnen muss und so weiter.

Problematisch ist: Im Vergleich zu herkömmlichen Netzwerkgeräten, wie Webservern, sind CPS eine sehr junge Erscheinung. Noch fehlt es den Entwicklern von beispielsweise IoT-befähigten Sensoren an langer Erfahrung mit der Netzwerksicherheit. Für die produzierenden Unternehmen einer mittelständisch geprägten Industrie stellt sich die Frage, inwiefern Cybersecurity – unter den Bedingungen eines hochdynamischen IIoT – überhaupt realisierbar ist. Sie müssen Maßnahmen etablieren, um die Vertraulichkeit, Integrität, Authentizität und Verfügbarkeit ihrer Prozesse zu sichern. In einer Produktionsumgebung genießt zumeist das letztgenannte Kriterium, die Verfügbarkeit, die größte Aufmerksamkeit; denn die Maschinen und Prozesse bilden hier den Kern der Wertschöpfung. Doch darüber hinaus ist die Integrität der CPS und der Datenübertragung eine unabdingbare Voraussetzung für die Qualität der Fertigung und ihrer Produkte.

Erhöht die Sicherheit: Künstliche Intelligenz am Netzwerkrand

Cloudbasierte Anwendungen im Internet der Dinge haben sich in der Vergangenheit als optimaler Nährboden für die Entwicklung von maschinellem Lernen, Deep Learning und Künstlicher Intelligenz erwiesen, deren Märkte regelrecht explodieren. Beobachter sagen den KI-Technolo­gien voraus, dass ihr weltweites Umsatzvolumen bis 2027 auf annähernd 267 Milliarden US-Dollar ansteigen und sich damit gegenüber 2019 fast verzehnfachen wird. Massive Treiber dieses Markts sind personalisierte Echtzeit-Kundenservices, Tools für den Finanzsektor und Versicherungen sowie die Abwehr von – siehe obige Beckstrom‘sche Prognose – immer raffinierteren Cyberangriffen. Der Handel und die Medizin werden die KI-Technologien besonders zügig adaptieren, und industrieübergreifend sind KI-Anwendungen vor allem in der Logistik weit entwickelt.

Als ein Vorreiter der industriellen KI-Ausprägungen haben sich das Machine Learning und das Deep Learning mithilfe neuronaler Netze in der Bildverarbeitung, vor allem in der Automation, Robotik und Qualitätskontrolle, etabliert. Jüngste Industrieanwendungen Künstlicher Intelligenz sind zumeist an das Thema Predictive Mainte­nance (vorausschauende Wartung) geknüpft. Sie verspricht ein besonders günstiges Aufwand-Nutzen-Verhältnis, hat sie doch das konkrete Ziel, Maschinenstillstand in der Fertigung zu vermeiden und so die Produktivität zu maximieren.

Künstliche Intelligenz ist also nützlich, um Dienstleistungen zu optimieren, die Industrielogistik zu verbessern und die Fertigung ertragreicher zu gestalten. Doch Probleme mit der Datensicherheit und Reglementierungen der Datennutzung können den Fortschritt bremsen.

Um KI-Technologien in der Produktionstechnik zu etablieren, ist ein dezentraler Ansatz mit verteilter und eingebetteter Intelligenz erforderlich, denn die momentan aussichtsreichste Antwort auf die oben aufgeworfene Sicherheitsfrage liegt am Netzwerkrand. Das Edge Computing, also die Datenaggregation und -vorverarbeitung in der Feldebene der Automatisierungstechnik, kann den Schutz von Feldgeräten und Daten gewährleisten; beispielsweise in Form von Edge-basierten Sicherheitsarchitekturen, Fire­walls, Intrusion-Detection-Systemen und Authentizierungsprotokollen. Darüber hinaus hilft der dezentrale Ansatz auch, das Energie- und das Latenzproblem der Cloud zu lösen. Denn Daten und Analysen, die vor Ort entstehen, sind eher in Echtzeit greifbar. Und weil somit weniger Informationen vom Rand zu einem Server transportiert werden müssen, nimmt der Verkehr in der Cloud ab, und deren Energiebedarf sinkt. Außerdem ist Edge Computing überall dort vorteilhaft, wo eine stabile Internetverbindung nicht immer erreicht werden kann, weil es im Zweifelsfall – zu einem bestimmten Grad – auch ohne diese funktioniert.

Daten schützen: Systeme, Chips und digitale Geschwister

Der Weg zum sicheren, hochverfügbaren und deterministischen Industrial IoT führt heute also unweigerlich über die Edge. Aber das Automatisieren am Rand ist nicht trivial, denn zum einen ist der Shopfloor kein fügsames, einheitliches Gebilde. Im Gegenteil: Die Welt der Feldgeräte ist ausgeprägt widerspenstig und heterogen, etwa bezüglich der Schnittstellen, und dennoch müssen Sicherheit, Verfügbarkeit und kurze Taktzeiten gewährleistet sein. Zum anderen ist dies nicht die Domäne anspruchsvoller intelligenter Algorithmen, die den hardwarebeschleunigten Komfort einer Serverumgebung brauchen. Hier ist vielmehr eine genügsame, aber effiziente Intelligenz gefragt, eine Embedded-KI, die sich mit den begrenzten Ressourcen der Knoten am Netzwerkrand zufriedengibt. Dass eine solche KI nicht völlig mittellos dasteht, ist wiederum den Moore’­schen Fortschritten der Chipentwicklung zu verdanken: Deren exponentielles Regime versetzt die Halbleiterhersteller in die Lage, ihre hochintegrierten Systemschaltungen (Systems-on-Chip, SoC) beispielsweise mit besonderen IP-Blöcken (Intellectual Property) auszurüsten, die jede Embedded-KI in Schwung bringen können.

Ist die nötige Systemperformance am Rand erreicht, müssen Entwickler und Systemintegratoren dafür sorgen, dass die Edge Devices im Fehlerfall einen Zustand einnehmen, der Benutzer und Ausrüstung vor Schäden beziehungsweise vor Datenverlust oder -missbrauch schützt. Unter Sicherheits- wie auch Verfügbarkeitsaspekten ist das Konzept des Digitalen Zwillings hier ein zukunftsweisender Beitrag. Er beschreibt sämtliche relevanten Funktionen eines jeden Systems und Subsystems vollständig, um sie zwischen den Schichten der Automatisierungspyramide an definierten Schnittpunkten und in standardisierten Formaten austauschen zu können. Vor allem im Kontext der Informationstechnik hat sich der Begriff der sogenannten Verwaltungsschale etabliert. Sie gilt als die Umsetzung des Digital Twin für die Industrie 4.0 und beinhaltet als solche Teilmodelle bestimmter Aspekte der IIoT-Things, hier umfassender als „Assets“ bezeichnet, die deren Eigenschaften und Funktionen abbilden. Als Kommunikationsgrundlage fungiert dabei das „Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0“. Die Verwaltungsschale verspricht so einen standardisierten Austausch dieser Teilmodelle und somit eine herstellerübergreifende Interoperabilität der Assets – als Basis, um digitale Ökosysteme zu schaffen, die heute industrie- und gesellschaftsweit als Innovationstreiber gelten.

Digitale Ökosysteme: Die Sinfonie braucht ein ganzes Orchester

Digitale Ökosysteme sind keine rein technische Erscheinung, aber Industriesegmente wie die Automatisierung, die hochgradig vernetzt sind und ohnehin einem starken Digitalisierungstrend unterliegen, sind prädestiniert dafür. Marcus Trapp und seine Co-Autoren vom Fraunhofer IESE beschreiben sie als sozio-technische Gebilde, die nicht nur digitale, technische Elemente umfassen, sondern Organisationen und Menschen sowie deren Beziehungen untereinander einschließen. Kennzeichnend für ein digitales Ökosystem ist demzufolge, dass die Ökosystem-Teilnehmer unabhängig voneinander auf ihrem jeweiligen Markt, aber gemeinsam im Ökosystem agieren – aufgrund eines wechselseitigen Nutzens, der durch diese Art der Zusammenarbeit entsteht.

Eine solche Vernetzung von CPS und anderen Assets vieler Akteure im IIoT beflügelt nicht nur die inkrementelle Innovation, sondern kann auch Disruption bewirken. In disruptiven Prozessen manifestiert sich das exponen­tielle Wachstumsregime, das heute, von der Chipentwicklung ausgehend, Industrie und Gesellschaft dominiert. Umwälzungen dieser Art entstehen vornehmlich in Nischenmärkten oder werden von Newcomern favorisiert, weil sich etablierte und erfolgreiche Marktteilnehmer oft schwer damit tun, ihre (bis dato) funktionierenden Prozesse aufzugeben und umzugestalten. „Echte disruptive Veränderungen der Geschäftsmodelle erfordern Mut und Visionen“, meint Dr. Jens Gayko, Geschäftsführer des Standardization Council Industrie 4.0. Zurzeit könne man beobachten, dass Unternehmen neue datenbasierte Dienstleistungen rund um ihre angestammten Produkte anböten, so Gayko. Dabei handele es sich aber oft um evolutionäre Weiterentwicklungen des Bestehenden, etwa Pay-per-Use-Modelle. Wenn jedoch Unternehmen den mutigen, visionären Weg beschreiten, kann Disruption neue Möglichkeiten der Wertschöpfung erschließen; sie setzt aber offene digitale Ökosysteme voraus, in denen die Partner – idealerweise – auf Augenhöhe agieren. Um das Potenzial disruptiver Prozesse freizusetzen, müssen proprietäre Insellösungen flexiblen digitalen Plattformen mit hohem Softwareanteil weichen. Aber wie real sind solche digitalen Ökosysteme in der Industrie von heute? „Wenn wir heute von digitalen Ökosystemen hören oder lesen, sollte uns immer bewusst sein, dass hier von idealen Szenarien die Rede ist, die alle mehr oder weniger große Lücken aufweisen“, sagt Prof. Rahman Jamal, der sich im Beirat des Exzellenzclusters Internet of Production mit dem Thema der Vernetzung und Kollaboration in der Fertigung auseinandersetzt. Dass beispielsweise Anbieter in der Automatisierungstechnik ihre Produkte und Plattformen in nahtlose Stories einwebten, die als ganzheitlicher und gangbarer Weg interpretiert werden könnten, sei aus Herstellersicht verständlich. Ist aber ein Ökosystem wirklich so umfassend, dass es nicht nur mit eigenen Produkten arbeitet, sondern die Integration in alle Richtungen ermöglicht? Das gilt es zu überprüfen. Die Integration nach außen sei dabei der Knackpunkt, so Jamal: „Denn es ist oft ein immenser Aufwand, und häufig sind Systemintegra­toren nötig, um die jeweiligen Schnittstellen zusammenzufügen. Der Aufwand sinkt aber umso schneller, je zügiger die Standardisierung voranschreitet.“

Das Standardization Council Industrie 4.0, DIN, DKE und das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie haben sich dieses Problems in der vierten Ausgabe der „Normungsroadmap Industrie 4.0“ angenommen. Als nationale Normungsstrategie soll sie die Grundlage zur Entwicklung international gültiger Standards bilden. Dafür enthält sie Use Cases sowie Referenzarchitekturmodelle und umfasst erstmals auch den industriellen Einsatz Künstlicher Intelligenz. Wer sie beispielsweise verwendet, um das Verhalten automatisierter Funktionen anzupassen, muss ihren Einfluss bei der Konformitätsbewertung berücksichtigen – je nachdem, welche Anforderungen an die funktionale Sicherheit bestehen.

MATTHIAS LAASCH beschäftigt sich als selbstständiger Fachjournalist und PR-Berater mit Technologieaspekten der Elektronik, Mechatronik und Photonik.

Weitere Informationen:

www.plattform-i40.de

www.sci40.com

Das VDE Institut prüft und zertifiziert das IoT:

www.vde.com/industry40-de

02/2021: Industrie 4.0: Auf dem Weg in die vernetzte Produktion

Cover dialog 02/2021
VDE
08.04.2021 Publikation

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