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19.03.2021 BIG DATA Publikation

Datennutzung 4.0

Die Vernetzung und der unternehmensübergreifende Austausch von Daten sind der nächste Schritt für die Industrie 4.0. Doch viele Unternehmen tun sich damit schwer. Gaia-X soll das ändern, zahlreiche Projekte dazu starten jetzt. Ob dieser „Moonshot“ gelingt, bleibt aber zweifelhaft.

VON OLIVER VOSS

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Als der Chef des Bundeskanzleramts Helge Braun (CDU) Ende Januar die Datenstrategie der Bundesregierung präsentierte, nannte er eine schockierende Zahl: 90 Prozent aller Daten würden nach Schätzungen von Wissenschaftlern nicht genutzt. Die Strategie der Bundesregierung soll helfen, diese „Datenschätze“ zu heben und die Nutzung insbesondere in der Wirtschaft zu fördern. Denn die Bedeutung von Daten wächst stetig. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) bezifferte den Wert der Datenökonomie in der EU für 2019 auf 400 Milliarden Euro – fast acht Prozent mehr als im Jahr zuvor.

Nicht umsonst werden Daten gern als das neue Öl oder Gold bezeichnet. „Wobei der Vergleich nicht besonders sinnvoll ist“, sagt Volker Markl, Direktor des Berlin Institute for the Foundations of Learning and Data (BIFOLD). Weil Daten nicht verbraucht werden, seien sie nicht mit ­einem Rohstoff vergleichbar, sondern eher mit Produktionsfaktoren wie Kapital, Arbeit oder Boden. Auf Englisch sagt Markl daher gern: „Data is not the new oil, but the new soil“ - also der neue Boden. Denn so, wie aus dem Boden neues Getreide entsteht, können aus Daten neue Informationen gewonnen werden. „Und so, wie ich den Boden düngen oder gießen muss, muss ich auch Daten pflegen, reinigen und aktualisieren“, so Markl.

Seine Daten nicht nur zu sammeln, sondern systematisch aufzubereiten, ist die Grundlage für gewinnbringende Analysen. Und nur so kann man auch einen Schritt weiter gehen und Informationen aus verschiedenen Quellen miteinander verknüpfen. Die Vernetzung von Daten ist ein zentrales Element der Industrie 4.0: In Fabriken werden Informationen von Zulieferern und Kunden gleichermaßen benötigt, um Logistik- und Produktionsprozesse zu optimieren. Der Datenaustausch zwischen dem Hersteller und dem Anwender einer Maschine ist Grundlage für die vorausschauende Wartung („Predictive Maintenance“ – siehe auch Beitrag auf Seite 22 im E-Paper). Und auch ganz neue Geschäftsmodelle werden so möglich, bei denen digitale Zusatzservices verkauft oder nicht die Maschine selbst, sondern deren Nutzungszeiten berechnet werden.

Doch manche Unternehmen tun sich damit noch schwer. „Viele deutsche Mittelständler sitzen auf Daten, ohne zu wissen, welche praktischen Anwendungsmöglichkeiten es hierfür gibt“, sagt Keran Sivalingam, Leiter des Projekts smartMA-X bei der SmartFactory Kaiserslautern. Hier sollen die Grundlagen für ein europaweites Maschinennetzwerk auf Basis von Gaia-X entstehen.

Die Cloudinfrastruktur ist ein zentrales Element in der Strategie der Bundesregierung, um die Datennutzung zu fördern. Die Erwartungen an Gaia-X könnten kaum größer sein: Als „Moonshot der Digitalpolitik“ und „vielleicht wichtigstes digitales Bestreben einer Generation“ bezeichnete es Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) beim Start im vergangenen Jahr. „Gaia-X muss der europäische Goldstandard in der Industrie werden“, fordert Iris Plöger, Mitglied der Hauptgeschäftsführung beim BDI.

Die Erwartungen an das europäische Datenprojekt Gaia-X sind gewaltig

Die vernetzte Dateninfrastruktur soll einerseits die Abhängigkeit von den großen US-Cloudanbietern, den Hyperscalern wie Amazon Web Services (AWS) oder Microsofts Azure reduzieren und andererseits eine Grundlage zum besseren Datenaustausch und damit für ein europäisches Datenökosystem schaffen.

Ob Gaia-X das wirklich gelingen kann, muss sich in diesem Jahr zeigen. 2020 ist aus der deutschen Idee tatsächlich ein europäisches Projekt geworden: Die 22 Gründungsmitglieder haben in Brüssel eine Dachorganisation gebildet. Dazu gehören Konzerne wie SAP, Siemens, Deutsche Telekom, Bosch und BMW, aber auch die Fraunhofer-Gesellschaft und französische Industriegrößen wie der Telekommunikationskonzern Orange, die IT-Spezialisten Amadeus, Atos und OVH oder der Energieriese EDF. Mehr als 180 weitere Unternehmen haben sich bereits für eine Mitgliedschaft beworben.

Und auch in immer mehr europäischen Ländern steigt das Interesse an dem Projekt. „Neben Deutschland gibt es inzwischen schon acht weitere nationale Hubs und ich gehe davon aus, dass es bis Jahresende zwanzig sein werden“, sagt Peter Krämer von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (Acatech). Krämer ist Koordinator des deutschen Gaia-X-Hubs, der zentralen Anlaufstelle für Interessenten an dem Vorhaben hierzulande. Wenn sich ein Unternehmer aus dem Sauerland bei Gaia-X anschließen möchte, muss er dadurch nicht in Brüssel anrufen, sondern hat eine direkte Kontaktmöglichkeit in München.

200 Personen aus 175 Unternehmen tauschen sich im deutschen Hub regelmäßig aus, die Produktionsindustrie und Use Cases aus der Industrie 4.0 spielen dabei eine herausragende Rolle. „Fehlende Möglichkeiten zum Austausch von Daten sind für viele ein Hemmnis, sich in die Datenwirtschaft einzuklinken“, sagt Krämer. „Ich glaube, dass Gaia-X diese Problematik beheben kann.“

Die Verwaltungsschale als wichtige Kommunikationsschnittstelle

Allerdings ist bis dahin noch viel Arbeit nötig. Die bisher in den Papieren und Konzepten zu Gaia-X formulierten Anforderungen seien teils „sehr vage und metaphysisch“ und entsprächen damit eher einer Art Wunschliste. „Wir sind jetzt dabei, sie durch konkrete technische Vorgaben zu erweitern“, sagt Krämer. Dabei wird beispielsweise eruiert, welche Standards und Schnittstellen es in den verschiedenen Domänen gibt, die in der Gaia-X-Architektur berücksichtigt werden müssen, damit der geplante Datenaustausch tatsächlich funktioniert. „Wir wollen dabei nicht das Rad neu erfinden, sondern versuchen bestehende Elemente zu nehmen und daraus ein Auto zu bauen“, sagt Krämer.

Eines dieser Elemente ist die sogenannte Verwaltungsschale. Das Konzept der im englischen auch Asset Administration Shell (AAS) genannten Schale wurde im Rahmen der Plattform Industrie 4.0 entwickelt. Sie soll das virtuelle Abbild sein, das jeder relevante Gegenstand in der vernetzten Produktion bekommen soll und gleichzeitig als interoperable Kommunikationsschnittstelle funktionieren. Frank Melzer, Lenkungskreis-Vorsitzender der Plattform Industrie 4.0 und CTO von Festo bezeichnet die Verwaltungsschale daher als „Kerntechnologie des Digitalen Zwillings für Industrie 4.0“. In ihr können beispielsweise die Eigenschaften und Betriebsdaten einer Maschine gespeichert werden, gleichzeitig kann diese über die AAS angesteuert oder können Daten ausgelesen werden.

„Die Verwaltungsschale soll auch eine Kommunikationsschnittstelle für Gaia-X werden“, sagt Daniel Senff, stellvertretender Leiter der Plattform Industrie 4.0. Doch zunächst einmal muss sie überhaupt in die breite Praxisanwendung gebracht werden. Dazu haben im Vorjahr 20 Firmen aus Maschinenbau und Elektrotechnik wie ABB, Pepperl+Fuchs, Schneider Electric oder Trumpf die Nutzerorganisation „Industrial Digital Twin Association“ (IDTA) gegründet. „Bis Ende des Jahres wird es so weit sein, dass wir Demonstrationsprojekte zeigen können“, sagt Senff. Bei einem davon geht es um Collaborative Condition Monitoring (CCM). Dabei teilen ein Komponentenlieferant, ein Maschinenhersteller und ein Betreiber Daten zum Zustand einer Maschine über verschiedene Standorte hinweg. Dieser Use Case zur gemeinsamen Big-Data-Nutzung wird derzeit vom Fraunhofer IOSB-INA am KI-­Reallabor in Lemgo entwickelt.

Ein anderes Einsatzszenario von Gaia-X wird in der SmartFactory Kaiserslautern erarbeitet. „Maschinen arbeiten aus verschiedenen Gründen oft nicht, manche sind sogar nur wenige Tage im Monat in Betrieb, vor allem bei Mittelständlern“, sagt Martin Ruskowski, Leiter der SmartFactory und des DFKI-Forschungsbereichs Innovative Fabriksysteme. Die stillstehende Maschine könnte in der Zeit von jemand anderem gegen eine Gebühr genutzt werden. Shared Production oder Production-as-a-Service nennt Ruskowski diesen Ansatz. Neben neuen Geschäftsmodellen kann damit auch für eine resilientere Produktion gesorgt werden: Wenn es an einer Stelle im Herstellungsprozess einen Ausfall gibt, könnte dafür künftig kurzfristig jemand an einem anderen Standort einspringen.

Aus der Kombination verschiedener Informationen werden Smart Skills

Dabei sollen im Gaia-X-Netzwerk Maschinenmodule mit bestimmten Fertigungsfähigkeiten (Skills) europaweit verbunden werden und miteinander kommunizieren. Zu einem einfachen Skill wie „Loch bohren“ gehören jedoch unzählige Informationen, beispielsweise Drehzahl, Bohrdruck oder Bohrwinkel. „Wir müssen nun erforschen und ausprobieren, welcher Grad an Abstraktion eines Skills notwendig und sinnvoll ist, um ihn im Gaia-X-Netzwerk anzubieten“, sagt smartMA-X-Projektleiter Sivalingam. Zudem müsse auch getestet werden, was technisch überhaupt möglich und sinnvoll sei.

Große Ambitionen hat auch die auf dem Digital-Gipfel Ende 2020 gegründete „Automotive Alliance“. Hier haben sich BMW, die Zulieferer Robert Bosch und ZF Friedrichshafen sowie Siemens, SAP und die Deutsche Telekom zusammengeschlossen. Weitere Partner wie Mercedes-Benz, Schaeffler, BASF und Henkel sind gerade dazugekommen. Sie wollen unter dem Namen „Catena-X“ Standards zum gemeinsamen Datenaustausch auf Basis von Gaia-X entwickeln. „Daten haben in der Automobilindustrie und für das Auto selber eine enorme Bedeutung“, hatte BMW-Chef Oliver Zipse bei der Vorstellung gesagt. Nach der Vernetzung von Fabriken und Maschinen in der Industrie 4.0 sei der nächste folgerichtige Schritt, dies auf ganze Industrien und Wertschöpfungsketten auszudehnen.

Alle Projekte eint der Wunsch nach Erleichterung des Datenaustauschs

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Mithilfe von Informations- und Kommunikationstechnologie werden Menschen, Maschinen und Produkte in der smarten Fabrik direkt miteinander vernetzt. Vernetzte Systeme ermöglichen es, Daten und damit Informationen auszutauschen und somit intelligent aufeinander zu reagieren.

| Siemens AG

Heute gäbe es nur „Datenpfützen“ für einzelne Anwendungen innerhalb von Unternehmen und teilweise zwischen direkten Partnern der Wertschöpfungskette, heißt es in Präsentationsunterlagen der Allianz. Geplant sei daher die „Verknüpfung der einzelnen Datenpfützen zu Datenketten zwischen Unternehmen und Anwendungen sowie die Schaffung von Kollaborationsumgebungen im gesamten automobilen Wertschöpfungsnetzwerk“. Bei den ersten Anwendungsfällen geht es vor allem um das Lieferketten-Management, beispielsweise die Nachverfolgbarkeit von Teilen, aber auch um den Nachweis ethischer und ökologischer Standards. So will BMW künftig nachvollziehen können, wie viel CO2 bei der Herstellung eines Elektro­autos und dessen Batterie emittiert wird.

Alle diese Projekte eint die Hoffnung, dass mit Gaia-X der Austausch und die Nutzung von Daten erleichtert wird. Doch sie alle haben auch das Problem, dass die Infrastruktur von Gaia-X derzeit nur auf dem Papier existiert. So geht es auch Stefan Stiene vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI). Das DFKI-Labor in Niedersachsen leitet ein Konsortium von 20 Unternehmen und Organisationen aus der Landwirtschaft. Sie haben Ende Januar vom Wirtschaftsministerium Fördermittel von fast 12 Millionen Euro für das Projekt Agri-Gaia erhalten. „Uns geht es darum, wie man KI in der Landwirtschaft entwickelt und trainierte Algorithmen dann auf die Maschinen bringt“, sagt Stiene. Die große Herausforderung dabei sei jedoch, dass auch die Entwicklung von Gaia-X parallel verlaufe. „Vieles ist noch abstrakt, daher haben wir noch kein klares Bild, wo wir technisch aufsetzen können“, sagt Stiene. Trotzdem glaubt er an einen Erfolg von Gaia-X. Im Frühjahr sollen weiter ausgearbeitete Dokumente zur Festlegung der Standards, der technischen Architektur und der Policy Rules von Gaia-X vorgelegt werden. Der formale Gründungsprozess der Dachorganisation Gaia-X AISBL wurde gerade erst beendet. Auch das Verfahren zur Zertifizierung, ob Dienste Gaia-X-konform sind, braucht noch etwas Zeit. „Wir werden Mitte des Jahres die ersten zertifizierten Gaia-X-Anwendungen sehen“, sagt Boris Otto, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Software- und Systemtechnik (ISST) und Interims-CTO von Gaia-X.

Doch kann das vom Wirtschaftsminister einst auch als „KI-Airbus“ bezeichnete Projekt damit rechtzeitig abheben? Als „halbherzig“ kritisierte BIFOLD-Direktor Markl im „Tagesspiegel“ die jetzige Umsetzung. „Statt einen Anbieter mit großer Schlagkraft und klarer Zielsetzung zu schaffen, entsteht nun ein vielstimmiges Konsortium mit vielen und nicht immer übereinstimmenden Zielen der Partner“, sagt Markl. „Da so viele Köche dabei sind, entstehen auch komplizierte Abstimmungsprozesse und man ist wahrscheinlich langsamer am Markt als nötig.“

Noch handelt es sich bei Gaia-X um wenig mehr als ein Konzept

Skeptisch sind auch die Analysten des US-Marktforschers Forrester. „Gaia-X wurde sehr spät in der Entwicklung des europäischen Public-Cloud-Marktes veröffentlicht und muss aufholen, und zwar schnell“, schreiben sie in ihrem Bericht. „Gaia-X wird irrelevant sein, wenn es nicht bis Mitte 2021 seinen Wert zeigt“, lautet das harsche Urteil. Durch die enorme Größe des Vorhabens werde es aber noch einige Zeit, womöglich Jahre dauern, bis die Gaia-X-Anwendungen ausgereift genug seien, um die etablierten Anbieter für sensible Workloads zu verdrängen. Bislang sei noch nichts Konkretes entwickelt worden und zunächst wird es nur Prototypen und sogenannte Minimum Viable Products (MVP) geben. „CIOs sollten es vermeiden, das Versuchskaninchen für diese MVP-Versuche zu sein“, warnen die Analysten.

Auch den Gaia-X-Beteiligten selbst ist klar, dass nun schnell konkret nutzbare Anwendungen erwartet werden. „Wir müssen zu Potte kommen“, sagte Gaia-X-CTO Otto im „Handelsblatt“. 2021 dürfte also das entscheidende Jahr für die Zukunft des Projekts werden.

OLIVER VOSS ist Redakteur beim Tagesspiegel und schreibt über die Digitalwirtschaft, Start-ups und andere Technologiethemen.

Mehr Informationen zum Projekt Gaia-X unter:

www.data-infrastructure.eu

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19.04.2023 TOP

Der VDE wirkt an der Nahtstelle zwischen Technologien, IT und Anwendung. Er führt bei Themen wie zuverlässige drahtlose Kommunikation, Robotik und autonome Systeme sowie IT-Sicherheit vernetzter System führende Experten und Anwender zusammen und verbreitert deren Wissensbasis. VDE|DKE engagiert sich aktiv in der Plattform Industrie 4.0. Mit der Deutschen Normungs-Roadmap hat sie einen wichtige Grundlage gelegt und das „Standardization Council Industrie 4.0“ gegründet.

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