Vorsichtigen reicht eine More Electric Society
Außerhalb der Technologie warten noch eine Menge Aufgaben auf die Visionäre. Befürworter sehen das Konzept als eine Chance, mit vielen Befürchtungen verbundene Themen wie der Energiewende oder der industriellen Transformation durch einen positiv besetzten Oberbegriff positiver aufzuladen. „Im Zentrum der All Electric Society steht nicht das Narrativ des Verzichts, sondern die Überzeugung, dass vor allem Innovationen helfen, diese Menschheitsaufgabe zu bewältigen“, sagt Kegel.
Auf der anderen Seite wird immer wieder dafür argumentiert, lieber von einer „More“ oder „Most“ Electric Society zu sprechen. Diese Begriffe klingen weniger radikal, beschreiben aber den gleichen Pfad: „Gegenwärtig beobachten wir einen Übergang zu einer stärker elektrisch geprägten Gesellschaft mit dem Endziel einer vollelektrischen Gesellschaft“, schreibt etwa das European Center for Power Electronics, ein industrienahes Forschungsnetzwerk. Wie sehr es um die richtigen Worte für die Vision geht, zeigt auch ein Blick nach Zwickau. Dort befindet sich einer der wenigen Orte in Deutschland, wo schon offensiv Projekte unter der Überschrift der All Electric Society vorangetrieben werden. Hier soll ein ganzer Stadtteil neu geplant und vernetzt werden. Plattenbauten wurden dafür bereits zurückgebaut, brachliegende Flächen werden neu belebt. „Da wollen wir einige Themen der All Electric Society und der Sektorenkopplung im Rahmen der Quartiersentwicklung erproben“, sagt Sven Leonhardt, zuständiger Projektleiter der Stadt Zwickau.
Dafür arbeitet die Kommune eng mit der örtlichen Hochschule zusammen, mit städtischen Gesellschaften wie dem Energieversorger oder dem Wohnungsbauunternehmen und privaten Konzernen wie Volkswagen, die in der Nachbarschaft ein Werk betreiben. Angesichts knapper Kassen geht es nicht so schnell voran wie erhofft: „Schritt für Schritt wollen wir ein paar Projekte vorantreiben – steter Tropfen höhlt den Stein“, sagt Leonhardt.
In der sächsischen Stadt mit etwas mehr als 90.000 Einwohnern zeigt sich, wie viele Beteiligte es zu berücksichtigen gilt. Nach Diskussionen mit dem Stadtrat musste das Team von Leonhardt beispielsweise noch einmal nachsitzen: „Wir hatten da ein Konzept, das städtebaulich super war – aber im ersten Anlauf zu wenig an den Menschen gedacht hat“, sagt Leonhardt. So ist eine Pendelstrecke für automatisiertes Fahren mit in den Plan gekommen, um das Stadtviertel besser an die Innenstadt anzuschließen. Aber auch sogenannte Quartiersteiche, die zum Flanieren am Wasser einladen und die Aufenthaltsqualität erhöhen. Nach der Überarbeitung ist das Konzept mal nah, mal weniger nah dran an der All Electric Society – aber findet politische Mehrheiten.
Elektrifizierte Welt soll nächste Erfolgsgeschichte werden
Denn nur mit einer breiten Unterstützung aus Politik und Gesellschaft lassen sich die ambitionierten Pläne der All Electric Society verwirklichen. Gunther Kegel von Pepperl + Fuchs setzt sich auf dem Weg dorthin für eine Neudefinition des Strommarktes ein, um die Attraktivität zu steigern. „Nur ein wettbewerbsfähiger Strompreis wird dazu führen, dass sich Strom als bevorzugter Energieträger durchsetzt.“ Noch sehen einige Beteiligte jedoch Verbesserungsbedarf, was Tempo und Stoßrichtung der Transformation angeht: „Wir verschwenden immer noch viel Zeit damit, über die Zielsetzungen zu sprechen statt über die Umsetzungen“, sagt der langjährige DKE Vorsitzende Bent. Wissenschaftler Teich beobachtet mit Sorge, wie in manchen Gremien angesichts zurückgehender Energiepreise auch das Interesse an neuen Konzepten sinkt: „Wenn man fachlich engagiert ist, ist es durchaus frustrierend zu beobachten.“
Wenn unter anderem die Politik deutliche Signale in Richtung der All Electric Society setzen will, kann es daher nicht schaden, die Potenziale einer vollelektrischen Gesellschaft stärker zu betonen. Das gilt erstens für das mögliche Erreichen von Klimazielen. Zweitens wachsen die Beschäftigungsmöglichkeiten in zahlreichen Bereichen. Eine Studie des Kreditversicherers Allianz Trade aus dem vergangenen Jahr hat aufgezeigt, dass allein durch die Gesetzesänderungen der Bundesregierung bis zu 400.000 zusätzliche Jobs in den kommenden zehn Jahren entstehen. Drittens könnte der Pfad der All Electric Society insgesamt zur wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte werden: „Wenn ich darauf schaue, was in der Wärmebranche, der Solarbranche oder im Bereich der Ladeinfrastruktur passiert, sind das gute Anzeichen“, sagt Bent. „Der Weg zur All Electric Society bietet enorme Chancen für Innovationen und Investitionen – vielleicht ist es sogar das größte wirtschaftliche Wachstumsprogramm, das wir jemals hatten.“
MANUEL HECKEL beschäftigt sich als freier Wirtschaftsjournalist in Köln auch mit der Auswirkung von Transformationsprozessen auf die Gesellschaft.