Resilienz
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01.04.2023 Publikation

Systemstabilität: Netz der Schwärme

Strom aus Zigtausenden Windturbinen und Millionen Solaranlagen soll künftig sämtliche Applikationen unseres Alltags antreiben. Doch die All Electric Society funktioniert nur, wenn Erzeuger, Verbraucher und Speicher eng zusammenarbeiten. Ein solch komplexes, dezentrales System ist für die Netzstabilität zugleich Chance und Risiko.

Von Eva Augsten

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VDE dialog - Das Technologie-Magazin

Vor zehn Jahren stellte Jochen Homann den Technik-Thriller „Blackout“ vor. Der damalige Chef der Bundesnetzagentur lobte den Realismus, mit dem Autor Marc Elsberg ausmalte, wie die gesamte Infrastruktur vom Stromnetz abhing. Tankstellen konnten ohne elektrische Pumpen keinen Sprit mehr verkaufen, Heizungen die Häuser nicht mehr wärmen. Der Leserschaft klarzumachen, dass unsere Stromversorgung verwundbar ist und es daher eine gute Idee wäre, eine Taschenlampe, ein paar Konserven und eine warme Decke bereitzuhalten, war vor zehn Jahren noch eine schwierige Mission. 

Mehrere Jahrhundertdürren mit Kühlproblemen an Kraftwerken, eine Schlammflut, eine Pandemie und ein Krieg in Europa mit einer Energiekrise als Nebenwirkung haben die Risikowahrnehmung verschoben. Seit Herbst 2022 sind die Suchmaschinen-Anfragen nach „Blackout“ und „Stromausfall“ so hoch wie nie. Wenn heute die Bundesnetzagentur darauf hinweist, dass man Millionen von E-Autos nach Feierabend nicht ohne zentrale Steuerung einfach laden kann, schrillen in den Köpfen die Alarmglocken: Kann unser Stromsystem wirklich eine All Electric Society versorgen?

Bei der Flutkatastrophe 2021 im Ahrtal wurden auch etliche Stromleitungen zerstört. Damit sie künftig besser vor solchen extremen Ereignissen geschützt sind, wurden die Leitungen bei der Wiederherstellung zum Teil höher, durch den Weinberg, verlegt.

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Status quo: zentrale Komponenten schützen

Einen Blackout im Ausmaß wie in Elsbergs Roman gab es bis heute nicht, größere Stromausfälle kamen allerdings vor. Nach dem Abschalten einer Höchstspannungsleitung über der Ems kam es 2006 erst zur Überlastung einer anderen Leitung, dann zu einem kaskadenartigen Stromausfall mit 1,5 Millionen Betroffenen. Verschiedenartige Störungen in der „Zuständigkeit des Netzbetreibers“ waren auch 2021 laut Bundesnetzagentur die Ursache für mehr als die Hälfte der Netzausfälle. Etwa ein Drittel der Ausfälle wird durch die „Einwirkung Dritter“ verursacht – so wie der anderthalbtägige Stromausfall in Berlin-Köpenick 2019, als ein Bagger gleich beide 110-kV-Leitungen beschädigte, die den Stadtteil versorgten. „Atmosphärische Störungen“, also zum Beispiel ein Eispanzer auf den Leitungen, wie er 2005 im Münsterland die Masten niederriss, machten 2021 ein knappes Zehntel der Stromausfälle aus. „Höhere Gewalt“, wie die Flutkatastrophe im Ahrtal, bei der die Schlammmassen nicht nur Häuser, sondern auch Stromleitungen und Trafos unbrauchbar machten, ist mit 3 Prozent nur selten die Ursache von Stromausfällen. Cyberangriffe, wie in Elsbergs Roman, gibt es ständig – laut Bundesnetzagentur führte in Deutschland bisher aber keiner zu einem Stromausfall.

Dezentrale Einheiten stabilisieren das Gesamtnetz

Auch wenn die meisten Ausfälle deutlich kürzer sind und weniger Menschen betreffen als die oben genannten, haben sie in der Regel eines gemeinsam: Sie gehen auf den Ausfall weniger zentraler Komponenten zurück. Die erprobten Gegenmittel heißen physische Absicherung und Redundanz. Die Bundesnetzagentur legt in ihrem Bericht zum Münsterland-Ausfall nahe, Normen an das häufigere Auftreten extremer Wetterlagen anzupassen. Da, wo ohnehin eine neue Infrastruktur geschaffen wird, passiert das mitunter schon, weiß VDE FNN Geschäftsführerin Heike Kerber: „Im Ahrtal wurden teilweise bei der Wiederherstellung die Leitungen nicht mehr durch das Tal verlegt, sondern durch den Weinberg. Auch einige Trafostationen stehen nun höher.“ Ganz ausschließen lassen sich Stromausfälle jedoch nie. „Unendliche Sicherheit ist unendlich teuer“, bilanziert Kerber. Mit dem Umstieg von einigen Hundert Großkraftwerken auf Zigtausende Windräder und Millionen von Solaranlagen als Basis ändert sich die Grundstruktur unserer Stromversorgung. Modellierungen zeigen, dass die Millionen von Solarspeichern, Wallboxen und Wärmepumpen eine Chance für die Netzstabilität sein können. Ein Szenario des Thinktanks Agora Energiewende rechnet damit, dass die Leistung der Heimspeicher und rückspeisefähigen Autobatterien in Deutschland bereits Ende der 2020er-Jahre die Pumpspeicherleistung überflügeln wird. „Stromausfälle, die durch die Überlastung einzelner Leitungen entstanden, wie 2006 im Emsland, hätte man sehr wahrscheinlich verhindern können, wenn die Übertragungsnetzbetreiber in der Lage gewesen wären, solche Anlagen in aggregierter Form anzusteuern“, sagt Christian Hachmann. Er befasst sich am Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik (Fraunhofer IEE) mit Planung und Betrieb von Übertragungsnetzen. 

Flutkatastrophe im Ahrtal 2021: Nepomukbrücke

Zerstörte Nepomukbrücke in Rech im Ahrtal

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Damit die dezentralen Einheiten das Netz wirklich stabilisieren können, müssten all die Wallboxen, Wärmepumpen und smarten Steuersysteme zusammenarbeiten wie ein Bienenschwarm, statt wie bisher vor allem den Eigenverbrauch zu optimieren und das Netz als Puffer zu nutzen. 

Grundlage könnte ein Ampelphasen-Konzept wie das von VDE FNN sein. Dieses unterscheidet die präventive Verwendung von Flexibilitäten in der gelben Phase (Lang- und Mittelfristprognose) und kurative Notfallmaßnahmen in der roten Phase (Kurzfristprognose).

Wie so ein Ansatz praktisch gehen kann, hat der Feldtest des Projektes flexQgrid im Schwarzwalddorf Freiamt gerade gezeigt. Beteiligt waren daran unter anderem das Karlsruher Forschungszentrum Informatik (FZI) und der Verteilnetzbetreiber Netze BW. Die 40 teilnehmenden Haushalte steuerten ihre PV-Anlagen, Wärmepumpen und Wallboxen im Zusammenspiel mit einer „Netzampel“. Gab diese grünes Licht, durften die Prosumer schalten und walten, wie sie wollten. Bei mittäglichen Einspeisespitzen oder zum Feierabend, wenn typischerweise viele Leute ihr Elektroauto laden, sprang die Ampel auf Gelb. Dann gab eine Quote vor, wie viel Strom höchstens aus dem Netz bezogen oder eingespeist werden durfte. Gab es hingegen eine plötzliche Abweichung oder fiel eine Netzkomponente aus, schaltete die Ampel auf Rot. In diesem Fall griff eine automatisierte Netzsteuerung ein und drosselte Erzeuger oder Verbraucher nach Bedarf.

Aus persönlichen Vorlieben beim Energiemanagement werden Störfälle

Doch gerade dieses schwarmartige Verhalten kann auch zur Gefahr werden. Die Wissenschaftsakademien acatech, Leopoldina und Akademienunion haben diese Möglichkeit im Rahmen ihres gemeinsamen Projektes „Energiesysteme der Zukunft“ (ESYS) untersucht. Indem Verbraucher und Erzeuger ihr Energiemanagement je nach Markt- und Wetterlage und persönlichen Vorlieben variieren, können sich Muster bilden, die zu „neuartigen komplexen Störfallabläufen“ führen. Vorhersehbar seien diese kaum, zu stoppen nur durch schnelle und automatisierte Softwareupdates. 

Dass Hacker versuchen werden, solche Störfälle zu provozieren, ist absehbar. Neue Großverbraucher wie Wallboxen und Wärmepumpen sind dabei aber nur eins der möglichen Ziele. Denn während das intelligente Messsystem, oft als Smart Meter bezeichnet, mit dem diese gesteuert werden sollen, mittlerweile einem Festungseingang gleicht, öffnen sich in den Haushalten ständig neue Hintertüren. Dabei muss man nicht darauf warten, dass sich Millionen von Kühlschränken und Waschmaschinen über die Fritzbox ins Internet der Dinge einwählen. Das österreichische Forschungszentrum für IT-Sicherheit SBA Research zeigte schon 2017, dass ein Botnetz-Angriff die Rechenleistung einer großen Zahl von Computern so stark manipulieren könnte, dass das Netz aus dem Takt gebracht würde.

Die Roadmap Systemstabilität

Mit der „Roadmap Systemstabilität“ will die Bundesregierung sich so gut wie möglich für die neue Energiewelt wappnen.

Die Treibhausgasneutralität bis 2045 ist das Ziel, ein Ökostromanteil von 80 Prozent der Meilenstein für das Jahr 2030. 

Heute kommt etwa die Hälfte des Stroms in Deutschland aus erneuerbaren Energien. Ein europaweites Stromsystem, das mit Wind und Sonne als wichtigsten Energiequellen Hunderte Millionen von Menschen versorgt, ist technisches Neuland. Wer sich in solch unbekanntem Terrain sicher bewegen will, ist gut beraten, zumindest eine Landkarte dabeizuhaben. 

Mit der „Roadmap Systemstabilität“ will die Bundesregierung sich so gut wie möglich für die neue Energiewelt wappnen. Ein Beirat aus den wichtigsten Stakeholdern soll helfen, möglichst viele Aspekte rechtzeitig zu berücksichtigen. Unter diesen Stakeholdern sind auch VDE ETG, VDE FNN und DKE. 

Für ein stabiles Stromsystem müssen nicht nur Gefahren wie Unwetter und Cyberangriffe bedacht, sondern auch die alltäglichen Aufgaben neu gedacht werden. Wie sollen die Schwungmassen der Großkraftwerke ersetzt werden? Wie können auch kleine Einheiten netzbildende Eigenschaften übernehmen? Diese und weitere Fragen soll der Beirat beantworten. Dabei geht es ausdrücklich um den stabilen Netzbetrieb, Energiemarktfragen werden an anderer Stelle diskutiert. Im Oktober 2022 fand die Auftaktsitzung des Beirats Systemstabilität statt. Die Roadmap soll im Spätsommer 2023 vorliegen.

Das ganze System zu hacken wird umso schwieriger, je mehr Akteure es gibt

IT-Sicherheit ist ein Katz-und-Maus-Spiel und wird es auch in einem digitalen Stromnetz bleiben. Das Oldenburger Informatik-Institut OFFIS probt dieses Spiel in seinen Laboren. Dr. Sebastian Lehnhoff, Professor für Energieinformatik am OFFIS und Mitglied des ESYS-Projektes, geht davon aus, dass die Vorstellung eines robusten Systems, in das Angreifer gar nicht erst eindringen können, auf Dauer nicht mehr funktionieren wird. „Das ist deshalb besonders kritisch, weil die Angreifer ihre Anstrengungen vervielfachen, sobald sie einen Fuß in der Tür haben“, sagt Lehnhoff. Beim weltweit bisher spektakulärsten IT-Angriff auf ein Stromnetz 2015 in der Ukraine waren Phishing-Mails mit infizierten Windows-Dateien dieser Fuß. Doch auch in einem solchen Fall sei der Blackout keinesfalls programmiert. „Niemand kann ein ganzes System gleichzeitig hacken. Wir müssen unsere Netze also so gestalten, dass sie sich mit dem nichtkorrumpierten Teil noch steuern lassen“, erklärt Lehnhoff. Ist zum Beispiel die Leitwarte unter Kontrolle eines Angreifers, könnten perspektivisch intelligente Netzknoten übernehmen und das System in den Normalzustand zurückbringen. 

Künftig soll es im Falle eines Schwarzfalles, also dem konkreten Ausfall eines stromerzeugenden Kraftwerkes, möglich sein, das Netz mit dezentralen Erzeugungsanlagen wieder aufzubauen. Das Fraunhofer ICT verbindet in Pfinztal bei Karlsruhe Windenergie, Photovoltaik und eine Batterie auf der Gleichstromseite zu einem Microgrid. „Die neue Anlagenkombination aus Wind, PV und Batterie soll schwarzstartfähig werden und den gesamten Campus über ein Inselnetz versorgen können“, sagt Peter Hussinger vom Projektentwickler BayWa r.e. Im Normalbetrieb reduziert die Gleichstromkopplung Wandlungsverluste und liefert so mehr Ökostrom für das Institut und die Netzeinspeisung. Auch ein Forschungsprojekt unter dem Dach der Internationalen Energieagentur untersucht anhand von sechs Beispielen aus Europa und Nordamerika, wie dezentrale Erzeuger ebenso für den Klimaschutz wie auch für die Resilienz optimiert werden können. Selbst an vielen PV-Wechselrichtern fürs Eigenheim ist mittlerweile eine einfache Notstrom-Steckdose vorgesehen. Die Ersatzversorgung des gesamten Hausnetzes ist die Ausnahme, doch auch sie wird häufiger. 

Netz der Zukunft als Schwarm

Im Netz der Zukunft arbeiten viele Erzeuger, Verbraucher und Speicher wie in einem Schwarm zusammen – mit allen Vor- und Nachteilen.

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Mit dem Smart-Meter-Rollout zieht die Hardware für die vernetzte All Electric Society in Zigtausende Haushalte ein, bald werden es Millionen sein. Im Gegensatz zu den Bienen ist den meisten Menschen aber noch nicht klar, dass sie zum aktiven Teil eines Gesamtsystems werden sollen. „Wir müssen lernen, das Thema besser zu kommunizieren. Die Debatte muss in die Talkshows und die Vorteile der Flexibilität müssen einfach und verständlich erklärt werden“, sagt Alexander Nollau, Abteilungsleiter Energy bei der DKE, für die er auch im Beirat Systemstabilität der Bundesregierung sitzt (siehe Kasten S. 23).

Damit die Stromkunden mitspielen, muss es einen erkennbaren Mehrwert für Markt- und netzorientiertes Verhalten geben. Dieser kommt mittlerweile in Sicht: Versorger wie Tibber und aWATTar bieten schon heute dynamische Strompreise an, bis Mitte des Jahrzehnts sollen diese zum Standard werden. Und Autokonzerne, Wallbox- und Wärmepumpenhersteller harren darauf, mit der einträglichen Vermarktung von Flexibilität neue Kunden zu gewinnen.

Im Grundsatz ist das im Sinne der Netzbetreiber. „Das Ziel ist es, die Stromflüsse, wann immer möglich, über den Markt zu regeln“, betont Kerber, für VDE FNN ebenfalls im Beirat der Bundesregierung. Doch man müsse sich auch auf Situationen vorbereiten, in denen das nicht aufgehe. „Wenn viel Windenergie den Strom billig macht und viele Kunden gleichzeitig zum Beispiel ihre Elektroautos laden wollen, können dadurch auch Engpässe im Verteilnetz entstehen. Dann muss es für Netzbetreiber möglich sein, einzugreifen und die Leistung der flexiblen Verbraucher auf eine zugesicherte Mindestleistung zu drosseln.“ Dem wiederum stimmen – im Grundsatz – auch die Flexibilitätsanbieter zu. 

Doch darf das Drosseln regelmäßig passieren oder nur im Notfall? Gelten diese Regeln automatisch für alle flexiblen Verbraucher oder ist die Teilnahme freiwillig? Wie ist die Flexibilität zu honorieren? Diese Fragen auszudiskutieren, wird noch eine Weile dauern. Um mit dem Smart-Meter-Rollout nicht noch länger warten zu müssen, soll dieser „agil“ sein: Die Geräte werden eingebaut, die Spielregeln für die Netzsteuerung per Softwareupdate nachgeliefert. Das sollte aber nicht wieder zehn Jahre dauern – denn eine All Electric Society ohne klare Regeln ist ganz sicher keine gute Idee.

Eva Augsten ist freie Journalistin in Hamburg mit dem Schwerpunkt Erneuerbare Energien.