Ein IT-Mitarbeiter in einem Serverraum
Martin Wolczyk / Adobe Firefly
01.01.2024 VDE dialog

Experten Wissen

Vor genau 70 Jahren, 1954, kam es zur Gründung der ersten wissenschaftlichen Fachgesellschaft unter dem Dach des VDE. Die Informationstechnische Gesellschaft im VDE ist ein Musterbeispiel für ein unabhängiges und fachlich fundiertes Expertennetzwerk. Ging es einst (nur) um Nachrichtentechnik, steht inzwischen die ganze Bandbreite der Informationstechnik auf der Tagesordnung.

Von Martin Schmitz-Kuhl

Als vor mehr als 130 Jahren der VDE gegründet wurde, war die Welt der Elektrotechnik noch überschaubar. In dem neuen Verein ging es in der Anfangszeit vor allem um elektrische Energie- und Starkstromtechnik. Von Informations-, Automatisierungs- oder Biomedizintechnik war ebenso wenig die Rede wie von Mikroelektronik, Digitalisierung, Robotik oder gar Künstlicher Intelligenz, den Themen unserer Zeit.

Doch schon bald war es mit der Übersichtlichkeit vorbei. Die Elektrotechnik entwickelte sich im 20. Jahrhundert rasant in unterschiedlichste Richtungen, und insbesondere die Schwachstromtechnik (später Fernmelde- oder Nachrichtentechnik) fühlte sich im VDE irgendwann nicht mehr angemessen vertreten. „In den 1950er-Jahren war zunächst angedacht, einen eigenen nachrichtentechnischen Verein zu gründen, mit dem man dann korporativ dem VDE beitreten wollte“, erzählt Dr. Norbert Gilson, stellvertretender Vorsitzender des VDE Ausschusses „Geschichte der Elektrotechnik“. Doch das sei auf große Vorbehalte gestoßen, befürchtete man doch, dass es damit zu einer Aufspaltung kommen würde, zu einer Art Nebenorganisation jenseits des eigentlichen VDE. „Auf der anderen Seite hatte man aber auch Sorge, dass die Nachrichtentechniker irgendwann ganz weg wären, wenn man nicht einen Schritt auf sie zugehen würde“, so der Historiker. Schließlich einigte man sich 1954 auf die Gründung einer Fachgesellschaft unter dem Dach des VDE. Diese Nachrichtentechnische Gesellschaft, aus der dann in den 1980er-Jahren die Informationstechnische Gesellschaft hervorging, war also kein eigener Verein, sondern ein Organ des VDE, mit großer Selbstständigkeit und doch organisatorisch eingebunden. „Damit gelang es, den zentrifugalen Kräften einer sich ausdifferenzierenden Elektrotechnik erst einmal Einhalt zu gebieten“, erklärt Gilson. Etwas, das allerdings 15 Jahre später mit der Gründung der Gesellschaft für Informatik – einer Fachgesellschaft außerhalb des VDE Ökosystems – auch schon wieder misslingen sollte: „Die Frage, wo Elektrotechnik anfängt und wo sie aufhört, stellt sich immer wieder neu. Bei der Informatik schaffte man es damals nicht, sie in den eigenen Reihen zu halten“, berichtet Gilson, der während seines eigenen Elektrotechnikstudiums Anfang der 1970er-Jahre noch die Konkurrenz der unterschiedlichen Fakultäten miterleben konnte.

"Wir gestalten Zukunft!"

 Dr. Volker Ziegler, ITG-Vorsitzender
Hans-Jürgen Schmitz, Martin Wolczyk / Adobe Firefly (Composing)
01.01.2024 VDE dialog

Der neue VDE ITG-Vorsitzende Dr. Volker Ziegler über die Herausforderungen und Möglichkeiten der Informationstechnik – und warum man gut daran tut, auf die Expertise der wissenschaftlichen Fachgesellschaft zu vertrauen.

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Fachgesellschaften als wissenschaftliches Fundament des VDE

Vielleicht waren solche Erfahrungen auch der Grund, warum sich der VDE in den kommenden Jahren offener zeigte und weitere Fachgesellschaften nicht nur zuließ, sondern auch beförderte. Manchmal geschah dies im Schulterschluss mit dem VDI, dem Verein Deutscher Ingenieure – wie bei der Mess- und Regelungs- bzw. Automatisierungstechnik (VDI/VDE GMA) sowie der Mikroelektronik, Mikrosystem- und Feinwerktechnik (VDE/ VDI GMM). Manchmal war dies eine alleinige Ausgründung aus den Reihen des VDE – wie erst bei der Informations- und dann bei der Energietechnik (VDE ETG). Und manchmal, wie im Fall der Biomedizintechnik, kam es auch zu einer Gründung außerhalb des VDE und die Gesellschaft schlüpfte erst später unter das Dach des VDE (VDE DGBMT). „Allen fünf Fachgesellschaften gemein ist, dass sie das wissenschaftliche Fundament des VDE darstellen“, so Dr. Martin Hieber, CTO der VDE Group. „Mit ihnen besteht ein einzigartiges Expertennetzwerk, das auch international seinesgleichen sucht.“

Dabei ist der Nutzen durchaus gegenseitig: „Zum einen profitiert der VDE ungemein von der wissenschaftlichen Kompetenz unter seinem Dach“, erklärt Hieber, der innerhalb des dreiköpfigen VDE Vorstands für Technik und Netzwerke zuständig ist. Hier verweist er zum Beispiel auf das Zusammenspiel zwischen den Handlungsempfehlungen und Positionspapieren der Fachgesellschaften auf der einen Seite und der Arbeit der DKE als Standardisierungs- und Normungsorganisation des VDE auf der anderen Seite. „Zum anderen haben die Fachgesellschaften mit dem VDE aber auch einen starken Partner an ihrer Seite, der noch einmal für eine ganz andere Aufmerksamkeit und Durchsetzungskraft sorgen kann“, so Hieber. Auch dank der Professionalität im Backoffice, das zum Beispiel in der Lage ist, all die kleinen und großen wissenschaftlichen Tagungen und Konferenzen zu organisieren, die für die Arbeit der Fachgesellschaften so wichtig sind. „Eine klassische Win-win-Situation.“

Kaum ein Bereich, in dem Informationstechnik nicht gefragt ist

Und damit ins Hier und Heute – und zu den aktuellen Tätigkeiten der Informationstechnischen Gesellschaft, die in den vergangenen sechs Jahren entscheidend von Prof. Dr. Hans D. Schotten geprägt wurde. Denn der Aachener Elektroingenieur ist nicht nur Inhaber des Lehrstuhls für Funkkommunikation und Navigation an der Technischen Universität Kaiserslautern sowie Wissenschaftlicher Direktor am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, zuständig für den Forschungsbereich Intelligente Netze, sondern er war eben auch bis Ende vergangenen Jahres Vorstandsvorsitzender der ITG und damit Mitglied im VDE Präsidium. Da Schotten nach zwei dreijährigen Amtszeiten satzungsgemäß nicht mehr zur Wahl stehen kann, wurde der 58-Jährige nun von seinem bisherigen Stellvertreter, Dr. Volker Ziegler, abgelöst. Für Schotten ein Abschied ohne weinendes Auge: „Ich halte eine solche Begrenzung der Amtszeit für sehr wichtig“, und fügt lachend hinzu: „Es gibt andere Verantwortlichkeiten, die zeitlich vielleicht auch besser begrenzt werden sollten.“

Zudem bringt ein solches Ehrenamt jede Menge Arbeit mit sich. Fragt man Schotten, worum es in den letzten sechs Jahren bei der ITG vor allem ging, weiß er gar nicht, wo er anfangen oder wo er aufhören soll. Schließlich gibt es kaum einen technischen Bereich, in dem die Informations- und Kommunikationstechnik nicht gefragt ist. In derzeit 87 Fachausschüssen versucht die ITG der Flut an Themen gerecht zu werden, aufgeteilt in acht Fachbereiche von Technischer Informatik über Hochfrequenztechnik bis hin zu Mikro- und Nanoelektronik. Bei all diesen Fachgebieten der ITG geht es um die Transformation von Industrie, Wirtschaft und Gesellschaft. Doch was das konkret heißt, zeigt sich erst, wenn man tiefer in die Arbeit der Expertengruppen eindringt. Da ist von 6G-Kommunikation die Rede, von Smart City, Green IT, Industrie 4.0, Internet der Dinge, autonomem Fahren, Robotik und natürlich Künstlicher Intelligenz. Keines der Megathemen, die momentan diskutiert werden, wird nicht auch hier behandelt. Alle derzeit relevanten Themen der Hightech-Strategie der Bundesregierung finden Platz in der ITG.

Porträtfoto von Prof. Dr. Hans D. Schotten, ITG-Vorsitzender 2018-2023

Prof. Dr. Hans D. Schotten, ITG-Vorsitzender 2018-2023

| Hannibal / VDE

Offene Ohren bei Fachleuten – aber oft zu wenig politische Resonanz

„Aktuell arbeiten wir beispielsweise an zwei Positionspapieren“, berichtet Schotten. Eines zum Thema nachhaltige Digitalisierung und der Frage, wie viel Regulierung der Telekommunikationsnetze sinnvoll ist, um entsprechende Effekte zu erzielen. Und ein Zweites zum Thema „New Space Communication“ – ein Gebiet, auf dem die USA bzw. US-amerikanische Unternehmen wie SpaceX vorgelegt haben und nun Europa schauen muss, wie es den Anschluss behält und sich dazu positioniert. Die Papiere, die in den Fachausschüssen erarbeitet werden, sind dabei durchaus unterschiedlich aufgebaut. Manchmal handelt es sich um ausführliche Studien, in denen detailliert ein Thema wissenschaftlich aufgearbeitet wird, dann wieder sind es nur einige Seiten umfassende Positionspapiere, in denen man kurz und pointiert Handlungsempfehlungen auf den Punkt bringt. „Ganz allgemein kann man aber sagen, dass wir zum einen bei den unterschiedlichsten Themen den Ist-Zustand analysieren und schauen, ob die Umsetzung funktioniert. Zum anderen definieren wir aber auch den Soll-Zustand und sagen, wo zum Beispiel Standardisierungs- und Regulierungsbedarf besteht“, so Schotten.

Und kann die ITG mit ihren Themen auch durchdringen? Hat sie tatsächlich Wirkungskraft? „Das ist eine gute Frage“, zögert Schotten kurz, „ich würde sagen: jein“. Dann berichtet er zunächst von den vielen Fällen, in denen es geklappt hat. Wenn das Timing stimmte und man das Glück hatte, mit einem Thema die Aufmerksamkeit relevanter Entscheidungsträger, der Presse und der Öffentlichkeit zu wecken. „Das sieht man dann auch an hohen Zitations- und Referenzzahlen und Nachfragen“, so der Professor. Manchmal käme es auch vor, dass ein Thema zunächst auf wenig Echo stoße, weil es schlichtweg der Zeit voraus sei, um dann im Nachhinein Wirkung zu erzielen. So habe beispielsweise das ITG-Papier zur Technologischen Souveränität, von der noch vor wenigen Jahren niemand geredet habe, nachhaltig die heute gängige Definition bestimmt – was freilich nicht zuletzt daran liegt, dass Schotten selbst auch stellvertretender Vorsitzender des 2021 vom Bundesforschungsministerium gegründeten Rats für technologische Souveränität ist.

Doch dieser Einfluss auf politische Entscheidungsträger ist eher die Ausnahme als die Regel. Denn während es meistens gelinge, sich auf Experten- und Fachseite Gehör zu verschaffen, werde dies in Politik, Medien und Gesellschaft immer schwieriger. „Wir müssen feststellen, dass im Moment der Begriff ,wissenschaftlich‘ von irgendwelchen aktivistischen NGOs missbraucht wird, die letztlich doch nur Lobbygruppen sind“, ärgert sich Schotten. Auf der anderen Seite werfe man der ITG vor, nicht neutral und unabhängig zu sein, weil hier auch Industrievertreter mitwirkten – in den Augen von Schotten absurd, weil der große Vorteil der VDE Fachgesellschaften gerade sei, dass man nicht aus dem Elfenbeinturm heraus argumentiere und einen umfassenden Blick aus wissenschaftlicher, aber auch Industriesicht auf die Themen habe. „Außerdem sind bei uns auch die Industrievertreter allesamt fachliche Experten, denen es immer nur um das Thema und nicht um die Vertretung von Unternehmensinteressen geht“, betont er. Denn egal, ob es sich um das Gebäudeenergiegesetz handele, um den Ausbau der erneuerbaren Energien und der dafür notwendigen Infrastruktur oder um die digitale Transformation: Immer wieder stelle man nachträglich fest, dass die Umsetzung etwas komplizierter ist, als zuvor behauptet wurde. „In den Zielen sind wir uns alle einig“, unterstreicht Schotten. „Aber wir müssen das einfach so planen, dass es dann auch funktioniert. Und dafür muss man mit allen reden!“



Titelblätter von Studien der ITG

Die Arbeit der ITG – oder zumindest das, was dabei herauskommt – besteht im Wesentlichen aus wissenschaftlichen Studien, Positionspapieren und Handlungsempfehlungen. Manch eine von ihnen wird auch zusammen mit anderen Fachgesellschaften erarbeitet.

| VDE

Nachwuchs werben und fördern, Expertinnen gezielt vernetzen

Apropos funktionieren: Ein wesentlicher Aspekt sind hier die Menschen. Genauer: Ingenieurinnen und Ingenieure der Elektro- bzw. Informationstechnik, von denen es in Zukunft mehr geben müsste, um all die gewünschten Wenden und Transformationen auch tatsächlich umsetzen zu können. Doch statt mehr gibt es immer weniger. Die Studierendenzahlen sinken seit Jahren, die Lage ist dramatisch. Dies zu ändern, hat sich Dr. Damian Dudek auf die Fahne geschrieben. Der 47-Jährige hat Mitte vergangenen Jahres Dr. Volker Schanz abgelöst, der zuvor 33 Jahre lang Geschäftsführer der ITG war. Der neue Mann in der Geschäftsstelle blickt auf eine Karriere an verschiedenen Forschungseinrichtungen zurück. „Ich habe während meiner beruflichen Laufbahn ein großes Netzwerk aufgebaut, mit dem ich dazu beitragen möchte, junge Leute für die Elektro- und Informationstechnik zu begeistern“, sagt Dudek. Denn Nachwuchsgewinnung sei das Gebot der Stunde, betont er, und zudem ein persönliches Anliegen. Dies stellte er nicht zuletzt mit einem VDE Positionspapier unter Beweis, das bereits vor Amtsantritt von ihm initiiert wurde. In dem Papier „Nachwuchsmangel in der Elektro- und Informationstechnik? – Wir packen es an!“ wird gezeigt, was zu tun ist, um den Fachkräftemangel zu bekämpfen und wieder mehr Nachwuchs zu gewinnen. Und es werden konkrete Vorschläge gemacht wie etwa ein bundesweiter, mehrstufiger Aktionsplan, um den dringend notwendigen Imagewandel dieses Studienfachs einzuläuten.

Nachholbedarf sieht Dudek vor allem bei der Frauenförderung („unsere Frauenquote ist katastrophal“), weshalb er bereits mit „Women in ITG“ einen Kreis mitgegründet hat, in dem Expertinnen sich vernetzen. Sein Ziel ist es, Frauen auch vermehrt in die Gremien zu bringen: „Wir brauchen mehr weibliche Role Models, damit Frauen in der Elektro- und Informationstechnik sichtbarer werden.“ Frauen wie zum Beispiel ITG-Vorstandsmitglied Dr. Yvonne Weitsch von Rohde & Schwarz. Oder Dr. Britta Buchholz, Vorstandsvorsitzende der ETG und Prof. Dr. Amelie Hagelauer, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der GMM.

Einzeln stark – zusammen mit anderen Fachgesellschaften noch stärker

Mit beiden Fachgesellschaften ist die ITG im regen Austausch. Dieser beschränkt sich nicht allein auf die Themen Fachkräftemangel und Nachwuchsgewinnung, auch fachlich gibt es zahlreiche Überschneidungen. So werden Studien in Zusammenarbeit erstellt oder Veranstaltungen organisiert, selbst gemeinsame Fachgruppen gibt es. „Eigentlich arbeiten wir mit allen anderen Fachgesellschaften gut zusammen“, überlegt Dudek, schließlich sei die Informationstechnologie überall vonnöten, egal ob es sich nun um Energienetze oder um Medizintechnik, um Industrie 4.0 oder um Mikroelektronik handele. Deshalb sei es – bei aller Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Disziplinen – eben auch von entscheidendem Vorteil, dass die unterschiedlichen Fachrichtungen schlussendlich beim VDE wieder unter einem Dach zusammenfinden.

Martin Schmitz-Kuhl ist freier Autor aus Frankfurt am Main und Redakteur beim VDE dialog.