Foto einer Großstadt, darüber die grafische Darstellung eines Netzes, von dem Verbindungen zu Gebäuden und Leitungen abzweigen.

Das smarte Stromnetz in der Stadt

| stock.adobe.com/Sergey Nivens
01.07.2022 Publikation

Energiewende: Schlaues Stromnetz

Damit die Dekarbonisierung gelingt, benötigen wir mehr Strom – und der muss intelligent verteilt werden. Nur dann lassen sich die vielen kleinen Stromerzeuger, Batteriespeicher und Elektroautos stabil einbinden. In der Praxis zeigt sich, wie Künstliche Intelligenz das bewerkstelligen kann.

von Tim Schröder

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Früher war alles ganz einfach. Der elektrische Strom wurde in großen Kraftwerken erzeugt, mit Hochspannungsleitungen über das Land bis in die Städte und Dörfer zu den Häusern transportiert. Vor allem floss der Strom nur in eine Richtung – von den Kraftwerken zu den Verbrauchern. Dieses klassische Netz wird heute auf den Kopf gestellt. Mit Biogasanlagen auf dem Land, Solaranlagen auf Hausdächern und Windparks gibt es Tausende kleinerer oder größerer Kraftwerke, die über das Stromnetz verteilt ihren Strom einspeisen. Manche Haushalte sind nicht mehr nur Verbraucher, sondern können, sofern eine Photovoltaikanlage auf dem Dach sitzt, Strom erzeugen und einspeisen. Der Strom wird dann entgegen der klassischen Richtung ins Netz gepumpt.

Das Problem besteht darin, dass man das lokale Verteilnetz in den Dörfern und Städten einfach und ohne viel Kommunikationstechnik betrieben hat. Das Höchstspannungsnetz, das den Strom über weite Strecken transportiert, wird sehr genau überwacht und gesteuert. In den Gemeinden aber fließt Strom bislang einfach wie bei einem Fluss zum Kunden, ohne dass man den Zustand des Netzes oder der Kunden genauer erfasst. Das geht künftig nicht mehr. Durch Haushalte, die Strom aus ihren Solaranlagen einspeisen, oder durch Elektrofahrzeuge, die den Verbrauch einer Wohnsiedlung multiplizieren, kommt mehr Bewegung denn je ins Netz. Wenn in einer Siedlung künftig zum Beispiel viele Leute nach Feierabend ihr Elektroauto an die Steckdose anschließen, dann kann das lokale Netz schnell überlastet werden. Die Lösung: Das lokale Verteilnetz und Kunden müssen zusammenspielen. Das lässt sich künftig unter anderem durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz erreichen, weil die Stromeinspeisung aus etlichen Anlagen und der Verbrauch aufeinander abgestimmt und mit dem gesamten Stromnetz in Einklang gebracht werden müssen. Dafür braucht es neue Sensoren. Zudem müssen Einspeiser und Verbraucher eingebunden werden.

Eine weißen Seite mit blauer Schrift und einer ikonografischen Darstellung des Energiesystems 2030

"Die Technik für die Infrastruktur steht. Der Rollout läuft." VDE FNN Roadmap "Zum Klimaschutznetz bis 2030"

| VDE FNN

Smartmeter: nach mehr als 15 Jahren Entwicklung endlich auf dem Markt

Diese Idee ist nicht neu. Schon vor 15 Jahren sprach man zum Beispiel von Smartmetern, von intelligenten Stromzählern, die über einen Router mit dem Stromnetz kommunizieren sollten. Eine der ersten griffigen Ideen bestand darin, dass die Smartmeter künftig elektrische Geräte starten könnten, wenn der Strom an den Energiebörsen billig sei. Doch die Kunden waren lange Zeit nicht sicher eingebunden. „Der Anspruch an die Smartmeter war hoch“, sagt Prof. Sebastian Lehnhoff, Vorstandsvorsitzender des OFFIS-Instituts für Informatik in Oldenburg. „Sie sollten zugleich vieles können.“ Sie sollten sich beispielsweise nicht nur nach dem Strompreis richten, sondern auch dazu beitragen, das Stromnetz zu stabilisieren. Zudem sollten sie sicher gegen Hackerangriffe sein und Daten verschlüsselt übertragen. Außerdem war lange unklar, wie man den Datenschutz umsetzen sollte. Man befürchtete, dass Smartmeter viel über das Verhalten der Hausbewohner verraten könnten. Lehnhoff: „Die Entwicklung hat extrem lange gedauert. Es war ein schwieriger Prozess.“

Mittlerweile ist Bewegung ins Ortsnetz gekommen. Trafos werden mit Sensorik und Schnittstellen für die Kommunikation ausgestattet. Zudem sind Smartmeter auf dem Markt, die vielseitig einsetzbar und sicher sind. „Seit etwa zwei Jahren kommt diese Technik deutlich schneller in die Fläche als in den Jahren zuvor“, sagt Sebastian Lehnhoff.

Die Roadmap „Zum Klimaschutznetz bis 2030“, die das Forum Netztechnik / Netzbetrieb im VDE (VDE FNN) Ende März vorgestellt hat, konkretisiert dies. Das zentrale Element für klimaneutralen Strom sei demnach ein intelligentes Messsystem, das Kundenanwendungen wie Wärmepumpen oder Wallboxen gezielt steuert. Der Stromverbrauch müsse in solche Stunden verschoben werden, in denen viel erneuerbare Leistung zur Verfügung stehe. „Die Technik für die Infrastruktur steht. Der Rollout läuft“, heißt es in der Roadmap. „Offen ist jedoch, wer welche Rechte und Pflichten hat und welche Anreize zum Mitmachen für den Endkunden gesetzt werden.“

Schwärme von Batterien und Ladesäulen – so wertvoll wie ein kleines Kraftwerk

Wie attraktive Lösungen für mehr Intelligenz im Ortsnetz aussehen können, zeigt ein Projekt, das Lehnhoffs OFFIS-Kollegin Prof. Astrid Nieße leitet. Sie ist Bereichsvorstand Energie und hat zusammen mit dem Start-up-Unternehmen be.storaged sogenannte Software-Agenten für Batteriespeicher entwickelt, wie sie beispielsweise an E-Auto-Ladesäulen verwendet werden. Um die Elektromobilität auch in schwach ausgebauten Stromnetzen zu fördern, ist es sinnvoll, Ladesäulen mit einer Batterie auszustatten, aus der E-Autos bei Problemen im Netz geladen werden. Die Software-Agenten erweitern diese simple Funktion der Batterie um ein interessantes Element: Sie machen den Speicher fit für den Stromhandel – und schaffen damit ein ganz neues Geschäftsmodell. Ist der Strompreis gerade hoch, gibt der Agent Befehl, den Strom aus der Batterie zu verkaufen. Ist der Strompreis niedrig, lädt sich die Batterie. Besonders ist, dass die Agenten miteinander kommunizieren. Sie verknüpfen viele Batteriespeicher in einer Region zu einem Schwarm. Dieser Schwarm agiert als Ganzes und kann in Summe entsprechend große Strommengen anbieten oder abnehmen. Die intelligenten Software-Agenten können künftig auch das typische Nutzungsprofil der Ladesäule erlernen – an welchen Tagen und zu welchen Tageszeiten die E-Autos wieviel Strom laden. Die Agenten können daraus ableiten, wann wie viel Strom an das Netz abgegeben werden kann. Letztlich fungiert dieser Ladestationen-Schwarm wie ein kleines Kraftwerk im Stromnetz. Damit kann er künftig auch für die bundesweite Kraftwerksplanung eingesetzt werden – den Dispatch. Beim Dispatch stimmen sich alle Kraftwerksbetreiber in einer Region am Vortag darüber ab, welches Kraftwerk wie viel Strom zur Verfügung stellen wird. Berücksichtigt werden dabei der zu erwartende Strompreis und die Kosten des Kraftwerks – etwa für Kohle oder Erdgas. Das Ergebnis des Dispatchs ist ein genauer Fahrplan aller Kraftwerke, der besagt, wann welches Kraftwerk angeschaltet wird, wie lange es Strom einspeist und auch mit welcher Leistung es arbeitet. Dank der Verknüpfung zu einem Schwarm können künftig auch die Batteriespeicher für den Dispatch genutzt werden.

Sollte eine Ladesäule einmal keinen Strom liefern können, weil die Batterie zu schwach geladen ist, regeln die Agenten automatisch, welche Ladesäule mehr Strom liefert. „Der große Vorteil dieser verteilten Intelligenz besteht darin, dass die Technik robuster als eine große Leitzen­trale ist, die alles kontrolliert“, sagt Astrid Nieße. Falle die Zen­trale aus, stünde das ganze System still. Beim Agenten-Konzept fielen höchstens einzelne Agenten an den Ladesäulen aus. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass beim Agenten-Konzept nicht Unmengen von Daten zwischen einer Zentrale und Hunderten von Säulen hin- und hergeschickt werden müssen, weil sich die Agenten direkt untereinander abstimmen. Solche Ansätze zur Datenverarbeitung vor Ort seien entscheidend für das intelligente Stromnetz der Zukunft, weil sie dazu beitragen, den Datentransport zu verringern.

Todor Kostov

"Unsere Software lernt das Verhalten des Ortsnetzes bis ins kleinste Detail kennen."

Todor Kostov, Gründer Reasonance GmbH

| Reasonance GmbH

Mit einem Digitalen Zwilling einer Stadt wird der Stromverbrauch vorhergesagt

Das Ortsnetz intelligenter zu machen, hat sich auch das Karlsruher Start-up-Unternehmen Reasonance zum Ziel gesetzt. Reasonance ist VDE-Mitglied und entwickelt Software, die sehr genau analysieren kann, wer im Ortsnetz gerade Strom verbraucht und einspeist. Eine solche Analyse ist bis heute kaum möglich. Die Stadtwerke haben lediglich einen allgemeinen Überblick darüber, was in Summe passiert – einen Saldo über die Verbräuche und die Stromproduktion. Detaillierte Informationen darüber, welche Trafostation wann wie viel einspeist, gibt es kaum. „Mithilfe unserer Software kann man Stück für Stück analysieren, wer welchen Anteil hat“, sagt Reasonance-Gründer Todor Kostov. Auch die Reasonance-Software setzt auf Sensordaten. Die Firma kooperiert unter anderem mit Stadtwerken in Baden-Württemberg, die ihre Ortsnetztrafos mit Sensoren nachgerüstet haben. Ausgewertet werden auch die Daten von Photovoltaikanlagen und künftig jene aus Smartmeters.

Stadtwerke müssen regelmäßig ihren künftigen Stromverbrauch abschätzen und Strom einkaufen. Die Kalkulation beruht oft auf Erfahrungswerten. Die ständig wachsende Zahl an privaten Photovoltaikanlagen, Batteriespeichern, Elektroautos oder auch Wärmepumpen macht diese Abschätzung aber immer schwieriger. Das kann dazu führen, dass der Stromverbrauch überschätzt wird und die Stadtwerke zu viel ordern. Dieser Überschuss muss dann, wenn es schlecht läuft, unter Wert weiterverkauft werden. Hier setzt die Reasonance-Technologie an. Dank der Sensorik im Ortsnetz hat sie einen sehr genauen Überblick, wer wann bestimmte Strommengen einspeist und verbraucht. Diese Information wird in einem Digitalen Zwilling, einem Computermodell des Ortsnetzes, verarbeitet und mit einer Vielzahl von Parametern kombiniert, die den Zustand des Netzes beeinflussen: die Temperatur, der Stand und Winkel der Sonne oder die Stromverluste durch Wechselrichter, die den Gleichstrom aus den Photovoltaikanlagen in Wechselstrom wandeln. Mithilfe von Machine-Learning-Verfahren lernt die Software das Verhalten des Ortsnetzes bis ins kleinste Detail kennen. Die Auswertung findet automatisch statt. So lässt sich beispielsweise der zu erwartende Stromverbrauch einer Stadt sehr viel besser abschätzen als anhand historischer Daten. "Wir können noch viele andere Dinge analysieren", sagt Todor Kostov – beispielsweise, wie sich ein neues Blockheizkraftwerk auf das Stromnetz auswirken wird oder der Anschluss einer bestimmten Zahl von Elektroautos.

Dauerhaft betrieben werden kann nur, was dem Gesamtnetz dient

Ein Digitaler Zwilling ist auch das Herzstück des Energy Lab 2.0 des Karlsruher Instituts für Technologie. Dort wird untersucht, wie sich große Kraftwerkskomponenten und elektrotechnische Bausteine im Stromnetz der Zukunft betreiben lassen. Das Zauberwort lautet "netzdienlich". Einzelne Komponenten sollen künftig stärker denn je dazu beitragen, das Netz stabil zu halten. Das ist herausfordernd, weil das Stromnetz ein fein abgestimmtes physikalisches System ist, in dem vor allem die Schwingungsfrequenz des Wechselstroms nur minimal vom Soll abweichen darf. Sonst gibt es einen Stromausfall. Bislang werden Spannung, Leistung und Frequenz im Stromnetz durch die Rotation der großen Stromgeneratoren in den Kohlekraftwerken stabil gehalten. Die riesigen Massen drehen sich mit 50 Umdrehungen pro Sekunde, mit 50 Hertz, womit auch der Wechselstrom in den Leitungen konstant mit 50 Hertz schwingt. Mit dem Zuwachs an Photovoltaikanlagen, Windrädern und vielen kleinen dezentralen Stromerzeugern werden die großen Kohlekraftwerke bis spätestens zum Jahr 2038 in Deutschland vom Netz gehen. Das Stromnetz der Zukunft braucht deshalb clevere neue Konzepte, die diesen Verlust an Stabilität ausgleichen.

Maschinen speichern Strom und geben ihn sekundenschnell ab

Im Energy Lab 2.0 wird untersucht, wie sich Gasturbinen, Schwungräder und sogenannte Superkondensatoren – Stromspeicher, die in Sekundenschnelle Energie abgeben können – dafür nutzen lassen. Der Clou besteht darin, dass es den Forschern gelungen ist, das Verhalten dieser Maschinen im Detail digital nachzuahmen. Sie können das Verhalten der echten Maschinen direkt mit dem digitalen Modell vergleichen. Das habe einen großen Vorteil, sagt Dr. Giovanni De Carne, Gruppenleiter Echtzeitsystemintegration. „An einer Maschine kann nur eine Arbeitsgruppe gleichzeitig arbeiten, an einem Digitalen Zwilling können mehrere forschen. Das kann die Einführung neuartiger Energietechnologien in der Markt beschleunigen.“

Die Experten testen, wie stark die Maschinen bei verschiedenen Szenarien belastet werden und wie schnell sie reagieren können. Das große Schwungrad rotiert mit 45.000 Umdrehungen pro Minute. Sollte es im Stromnetz erhöhten Strombedarf geben, weil stromfressende Industrieanlagen oder Elektrolyseure für die Wasserstoffproduktion hochgefahren werden, kann es die Bewegungsenergie sekundenschnell in Strom umsetzen – bis zur vollen Leistung von 120 Kilowatt pro Sekunde. Das entspricht etwa der Leistung von Schnellladestationen für Elektroautos. Die Kombination eines Digitalen Zwillings und Machine-Learning-Werkzeugen mit Anlagen von Industrie- größe im Energy Lab 2.0 sei in Europa einzigartig, betont Giovanni De Carne.

Auf violettem Hintergrund ist mit Linien gezeichnet die Darstellung eines digitalen Zwillings einer Stadt zu sehen.

Im Energy Lab 2.0 proben Forscher des Karlsruher Institut für Technologie am Digitalen Zwilling einer Stadt, wie das Energienetz auch

nach dem Wegfall der großen Kohlekraftwerke stabil gehalten werden kann.

| Marie-Thérèse Frank und Andreas Sexauer/KIT

Viele kleine Anlagen haben gemeinsam großes Potenzial

Doch künftig sollen nicht nur die größeren Anlagen netzdienlich arbeiten, sondern auch kleine Anlagen wie etwa private Photovoltaikanlagen, Stromspeicher im heimischen Keller oder auch Elektroautos. Wie beim Ladesäulenschwarm steckt in ihnen in Summe ein großes Potenzial, das man für die Netzstabilität nutzen kann. Für OFFIS-Forscher Sebastian Lehnhoff ist es wichtig, sie künftig in den sogenannten Redispatch einzubinden. Zur Erklärung: Sobald der Dispatch beendet ist, überprüfen die Übertragungsnetzbetreiber, inwieweit die verschiedenen Abschnitte des Netzes am Folgetag durch den Stromtransport zwischen Erzeugern und Verbrauchern belastet werden. Entsprechend muss dann die Leistung bestimmter Kraftwerke gedrosselt oder hochgefahren werden. Diese Feinplanung wird als Redispatch bezeichnet. Früher wurde der Redispatch über die Großkraftwerke geregelt. War abzusehen, dass am nächsten Tag eine Stromleitung überlastet sein würde, gaben die großen Netzbetreiber Befehl, das Kraftwerk vor dem Engpass zu drosseln und jenes hinter dem Engpass in der Region mit hohem Strombedarf hochzufahren.

Im Herbst vergangenen Jahres trat bundesweit die Redispatch-2.0-Regelung in Kraft. Seitdem müssen sich auch kleinere Netzbetreiber und Stromversorgungsunternehmen am Redispatch beteiligen – und beispielsweise ihre Solar- oder Windparks entsprechend regeln. Im dreijährigen Projekt Redispatch 3.0 untersucht das OFFIS jetzt mit einer Reihe von Partnern, wie sich auch die private Photovoltaikanlage und das Elektroauto in Echtzeit einbinden lassen. Spätestens seit dem Ukraine-Krieg denken viele Verbraucher darüber nach, ihre Gasheizung durch eine Wärmepumpe zu ersetzen, sagt Lehnhoff. Die Nachfrage gehe derzeit durch die Decke. Das bedeute auch, dass sich in den kommenden Jahren sehr viel Nachfrage vom Gasmarkt in den Strommarkt verschieben werde. Auch das mache deutlich, wie wichtig die Aspekte Digitalisierung und Redispatch 3.0 für die Energiewende seien.

Auf dem Weg dahin gibt es aber noch ein größeres Hindernis, sagt Prof. Jens Strüker. „In Sachen digitaler Vernetzung gibt es bis heute noch keine Durchgängigkeit von einem Ende des Stromnetzes zum anderen – also vom Erzeuger über die Übertragungsnetzbetreiber bis zum Verbraucher.“ Strüker ist Professor für Wirtschaftsinformatik und Digitales Energiemanagement an der Universität Bayreuth und Leiter des Fraunhofer Blockchain-Labors. Sein Steckenpferd ist die Dekarbonisierung des Energiesystems durch Digitalisierung. Da sieht er bislang noch viele Kommunikationsbrüche. „Wenn wir auch kleine Erzeuger netzdienlich einbinden und für den Redispatch nutzen wollen, dann müssen diese von außen steuerbar sein, davon sind wir noch weit entfernt.“ So gebe es bei der Bundesnetzagentur zwar das sogenannte Marktstammdatenregister, in dem die meisten Energieerzeuger ab 100 Kilowatt Leistung aufgeführt sind. Dieses sei allerdings eine reine Kartei, bei der man sich zwar online anmelde, die aber keine digitale Interaktion zulasse. „Wenn Sie sich heute als Privatperson bei einem Internetprovider anmelden, sind Sie direkt mit der digitalen Welt verbunden“, sagt Jens Strüker. Das sollte auch beim Marktstammdatenregister umgesetzt werden. Damit ließe sich schnell eine durchgängige Kommunikation über alle Ebenen des Stromnetzes realisieren.

Ein Manko sei auch, dass das Register heute nicht mit dem bundesweiten Portal für den Herkunftsnachweis von Grünstrom verknüpft ist, in dem Betreiber ihre Ökostromanlagen registrieren. „Eine solche Kombination ist meiner Ansicht nach längst überfällig.“ Eine durchgängige digitale Verknüpfung würde nicht nur dem Redispatch 3.0 den Weg ebnen und helfen, Anlagen netzdienlich zu betreiben. Es wäre langfristig auch möglich, jederzeit zu bestimmen, wie viele Kohlendioxidemissionen der Strom im Netz gerade verursacht. Jens Strüker: "Man könnte den Kraftwerkspark dann zum Beispiel nach einem CO2-Signal steuern – sodass er in der Gesamtbilanz besonders klimafreundlich arbeitet." Das wäre ein wirklich großer Wurf für die Energiewende.


Tim Schröder ist Wissenschaftsjournalist in Oldenburg.