Konzept der Unternehmenslogistik, Truck des Logistiknetzes
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25.03.2022 Publikation

Wertschöpfung: Krisenfeste Strategien

Die Wirtschaft muss weiter mit Lieferproblemen leben. Unternehmen, Politik und Wissenschaft wollen mit verschiedenen Maßnahmen die Versorgungsketten widerstandsfähiger machen. Dafür gibt es auch neue technische Lösungen, doch die Umsetzung ist nicht einfach.

Von Oliver Voß

alken stellen grafisch dar, wieviel Prozent der Unternehmen in unterschiedlichen Branchen Ende 2021 über Lieferprobleme klagten

81,9 Prozent der Firmen klagten Ende 2021 über Probleme bei der Beschaffung von Vorprodukten und Rohstoffen. Überdurchschnittlich oft sind unter anderem Hersteller elektrischer Geräte und Betriebe der Automobilindustrie betroffen.

| ifo Institut

Wie anfällig das globale Wirtschaftssystem für Störungen ist, spüren viele Menschen seit Monaten. Ob größere Möbel, Playstation 5 oder das neue Auto, bei vielen Dingen gibt es Lieferschwierigkeiten und teils monatelange Wartezeiten. Für viele Unternehmen besonders drastisch ist der weltweite Chipmangel. In vielen Branchen sanken die Umsätze 2021. Und eine Besserung ist nicht in Sicht. Auch das laufende werde ein „Stop-and-Go-Jahr“ lautet die Prognose des Industrieverbandes BDI. „Trotz voller Auftragsbücher werden fehlende Mikrochips, Bauteile und Rohstoffe die Produktion noch längere Zeit beeinträchtigen“, sagt BDI-Präsident Siegfried Russwurm. Diese Engpässe verringern die industrielle Wertschöpfung Deutschlands in den Jahren 2021 und 2022 um jeweils mehr als 50 Milliarden Euro. Die wirtschaftlichen Einbußen haben auch mittel- und langfristige Folgen auf verschiedenen Ebenen. Wirtschaft, Wissenschaft und Politik analysieren die Fragilität der Lieferketten und ziehen daraus Konsequenzen. Unternehmen diskutieren Maßnahmen wie Nearshoring, Multi-Sourcing und Redundanzkapazitäten. Die politische Debatte um technologische Souveränität gewinnt weiter an Fahrt. Und Wissenschaftler entwickeln Plattformen für resiliente Versorgungsnetze und andere Methoden, um Lieferketten widerstandsfähiger zu machen.

Prozesse hinterfragen und Krisenszenarien durchspielen

Doch bis diese Aktivitäten Entlastung bringen, müssen Unternehmen zu anderen Maßnahmen greifen, um die Versorgung für ihre Produktionsabläufe zu sichern. Bei Einkauf und Beschaffung bietet auch der VDE grundsätzlich Unterstützung: Über die VDE Global Services gibt es verschiedene Dienstleistungen im Supply Chain Management, das Spektrum reicht von der Überprüfung möglicher Lieferanten in Asien bis hin zur Warenausgangskontrolle. Auf Unternehmen und Projektleiter im Bereich Erneuerbare Energien konzentriert sich hierbei die VDE Renewables. „Unser Ansatz ist ein detailliert ausgearbeitetes, maßgeschneidertes Servicekonzept und richtet sich an alle Stakeholder der Energiewirtschaft“, sagt Burkhard Holder, Geschäftsführer der VDE Renewables. Die Experten der VDE Supply Chain Services sollen in normalen Zeiten sicherstellen, dass bestellte Güter in der benötigten Qualität zur vereinbarten Zeit geliefert werden können. Doch regionale Lockdowns und Einschränkungen der Reisemöglichkeiten erschweren auch die entsprechenden Audits. „Unsere Inspektoren können und konnten nicht ohne Weiteres Fabriken besuchen“, sagt Michael Wenzel, Key Account Manager für Supply Chain Services beim VDE Prüf- und Zertifizierungsinstitut. Daher wurde auch hier auf digitale Kommunikationswege umgestellt und es werden beispielsweise virtuelle Inspektionen durchgeführt. „Vorverschiffungskontrollen mussten teils auch in einen hybriden Prozess überführt werden“, sagt Wenzel. So werden nun Siegel in die Fabriken geschickt, von dort werden versiegelte Muster in das Labor vor Ort gesandt, wo dann die Kontrolle stattfindet.

Der Spagat zwischen Effizienz und Resilienz

Viele Unternehmen prüfen jetzt genau ihre Prozesse und Lieferketten. Dazu gehören die Ermittlung von Lagerreichweiten, die Optimierung des Bestandsmanagements und die Frage, was kritische Komponenten sind und wo sie produziert werden. „Es macht Sinn, für strategisch wichtige Komponenten wieder verstärkt ins Dual Sourcing zu gehen, also Alternativlieferanten aufzubauen“, rät Sylvia Trage, Direktorin im Bereich Consulting bei KPMG. Laut einer McKinsey-Studie will jedes vierte mittelständische Unternehmen seine Lieferkette regionalisieren. Auch die Rückkehr von Teilen der Produktion (Reshoring) oder das Nearshoring, also die Verlagerung von Produktion an günstigere, aber näher gelegene Standorte, sind Thema.

Dabei stehen die Firmen jedoch in einem Konflikt zwischen Effizienz und Resilienz. Lange war das Paradigma, nicht benötigte Strukturen aus Kostengründen abzubauen. Um das Verhältnis nun neu zu justieren, helfen Werkzeuge wie das Resilience Engineering. „Man kann auf einer Leistungs-Zeit-Kurve den Leistungsabfall eines Unternehmens in einer Krise unter verschiedenen Bedingungen oder Maßnahmen berechnen“, erklärt Alexander Stolz, Leiter der Abteilung Sicherheitstechnologie am Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik. Im Vergleich der Ergebnisse zeige sich dann, welche Option die resilientere ist. Dazu gehört auch, Krisenszenarien durchzuspielen. Dabei ist es gar nicht so wichtig, wie genau man problematische Situationen prognostiziert. Stattdessen sollten Unternehmen abstrahieren und etwa Pläne für den Fall entwickeln, dass die Hälfte der Belegschaft nicht vor Ort arbeiten kann – ob wegen einer Pandemie, einer Naturkatastrophe oder eines Systemausfalls ist letztlich egal. Auch an neuen technischen Lösungen wird gearbeitet. Das Bundeswirtschaftsministerium fördert im Rahmen des Innovationswettbewerbs Künstliche Intelligenz seit vergangenem Sommer gleich vier Projekte zur Prävention und Bewältigung von Krisen mit insgesamt rund 44 Millionen Euro.

KI-basierte Plattform für vorausschauendes Krisenmanagement

Die Advaneo GmbH entwickelt mit Partnern eine lernende KI-Plattform für das Management von Krisen im Projekt PAIRS (Privacy-Aware, Intelligent and Resilient CrisiS Management). Das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) leitet ein ähnliches Vorhaben und arbeitet an einer Semantischen Plattform zur intelligenten Entscheidungs- und Einsatzunterstützung in Leitstellen und beim Lagemanagement (SPELL).

In einem weiteren Vorhaben sollen Engpässe in den Versorgungsketten von Unternehmen und öffentlichen Bedarfsträgern in Krisensituationen schneller identifiziert und prognostiziert werden. So sollen mithilfe von Digitalen Zwillingen Versorgungsnetze simuliert und Vorhersagen zu Auswirkungen unterschiedlicher Ereignisse auf die Versorgungsketten erleichtert werden. Der Fokus liegt hier auf krisenrelevanten Gütern wie Desinfektionsmitteln, Schutzausrüstung oder Blutkonserven. Die Kommunikations- und Informationsplattform für resiliente, krisenrelevante Versorgungsnetze (ResKriVer) wird vom Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme (FOKUS) geleitet, weitere Partner sind die Berliner Feuerwehr oder die Charité.

Und auch im Projekt CoyPu (Cognitive Economy Intelligence Plattform für die Resilienz wirtschaftlicher Ökosysteme) wird eine KI-basierte Plattform für effizientes Krisenmanagement entwickelt, hier stehen verbesserte Vorhersagen zur Nachfrage von Produkten im Vordergrund. Das soll vor allem mittelständischen Unternehmen helfen, die eigenen Produktions- und Lieferketten krisenfester zu machen.

Auch wenn sich die vier Vorhaben unter anderem in den Zielgruppen und ihrem Fokus unterscheiden, gibt es auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten. „Wir sind daher auch im Austausch mit den anderen Projekten“, sagt Michael Martin, Leiter des Kompetenzzentrums für Effiziente Technologieintegration am Institut für Angewandte Informatik (InfAI) in Leipzig. „Synergien gibt es beispielsweise bei der Datenbeschaffung oder Aufbereitung“, sagt Martin, der das CoyPu-Projekt leitet.

Die Datenakquise war im ersten halben Jahr seit dem Projektbeginn die erste große Aufgabe und eine juristische Herausforderung. Als große Unternehmen sind dabei Infineon und Siemens am Projekt beteiligt und stellen Daten ihrer eigenen Lieferketten zur Verfügung. „Wir wollen unser Partnernetzwerk aber weiter vergrößern“, sagt Martin. Schließlich soll die Plattform am Ende vor allem auch kleineren und mittleren Unternehmen Hilfsmittel bieten. „Welches mittlere Unternehmen weiß schon über die komplette Lieferkette Bescheid?“, sagt Martin. Großunternehmen könnten sich dazu auch Beratungen leisten, für KMU ist das deutlich schwieriger. Ein weiterer Projektpartner ist daher die DATEV, die künftig ihren mittelständischen Kunden auch Beratungsleistungen im Umgang mit Krisensituationen anbieten möchte.

Bei der Entwicklung der Plattform werden auch Daten der WHO, der OSZE und vom DIW genutzt. Das 1925 gegründete Wirtschaftsforschungsinstitut verfügt über umfangreiche Datenbestände aus historischen Krisen, die genutzt werden sollen, um die Algorithmen zu trainieren. „Die Idee ist, verschiedene Daten übereinanderzulegen und ein großes Wissensnetz zu bauen, das sich mit KI-basierten Ansätzen untersuchen lässt“, sagt Martin. Damit sollen Nachfragevorhersagen ermöglicht werden oder Verzögerungen in der Logistik, wenn beispielsweise Grenzen geschlossen werden.

„Entscheidend ist es natürlich, die Daten so aufzubereiten, dass ein Mensch sie versteht“, sagt Martin. So könnte es beispielsweise Warnungen in Form eines Ampelsystems geben, an ersten Entwürfen für entsprechende Dashboards wird gerade gearbeitet. Zudem sei die Herausforderung, die richtigen Parameter für die Modelle zu finden, festzulegen und in Regelwerke zu gießen.

»Logistikprobleme sind eine permanente Gefahr, die uns auch nach der Pandemie beschäftigen wird.«

MICHAEL MARTIN Leiter Kompetenzzentrum für Effiziente Technologieintegration am InfAI 

Digitale Wertschöpfungszwillinge bilden Logistikprozesse ab

Innovative Software für die Lagerverwaltung
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Das Projekt läuft insgesamt drei Jahre. Auch wenn bis dahin die Corona-Pandemie hoffentlich überstanden ist, sieht der Informatiker auch dann Bedarf für entsprechende Werkzeuge. „Logistikprobleme sind eine permanente Gefahr, die uns auch nach der Pandemie beschäftigen wird“, sagt Martin. Von Naturereignissen, wie Vulkanausbrüchen, die zu Flugsperrungen führen, über Havarien und Unfälle, bis hin zu Kriegen, die zu Einschränkungen bei der Lieferung knapper Rohstoffe und anderer Güter führen können, gebe es immer wieder Krisen auf verschiedenen Ebenen. 

Um die Erforschung von Maßnahmen zum Aufbau resilienter Lieferketten ging es auch bei ResiLike, einem Gemeinschaftsprojekt der Fraunhofer-Institute für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) sowie für Fabrikbetrieb und -automatisierung (IFF). Eine zentrale Frage des im Dezember 2021 abgeschlossenen Vorhabens lautete: Wie kann man frühzeitig erkennen, dass die Lieferkette ins Stocken gerät?

Denn in Firmen gibt es oft Defizite bei der unternehmensübergreifenden Vorausschau, der Durchgängigkeit von Daten- und Prozessketten oder auch in der Verfügbarkeit und dem Einsatz von Simulationsmodellen. Eine Folge: Selbst bei absehbaren Problemen wird nicht angemessen reagiert, wie Gespräche und das Feedback im ResiLike-Projekt gezeigt haben.

„Die Folgen des Chipmangels hätte man früher sehen können, doch viele Unternehmen haben die Augen verschlossen“, sagt Michael Hertwig vom Team „Digital Engineering“ bei Fraunhofer IAO. Bei der tagelangen Blockade des Suezkanals durch das stecken gebliebene Frachtschiff „Ever Given“ hätten sich etliche Auswirkungen dagegen erst viel später gezeigt, als man dachte, beispielsweise durch noch nach Monaten fehlende Container in verschiedenen Häfen.

Viele Unternehmen können reagieren, wenn sie Informationen zu Störungen in der Lieferkette früher bekommen, sagt Hertwig. So sei es beispielsweise dank der sogenannten Neuen Seidenstraße einfacher, Logistikträger zu wechseln und statt eines Schiffes die Zuglinie aus Mittelchina zu nutzen.

„Dafür wären digitale Modelle hilfreich, wo Informationen verknüpft werden und man entsprechende Entscheidungen ableiten kann“, sagt Hertwig. Ein neuer Ansatz, um Logistikprozesse ganzheitlich abzubilden und zu optimieren, sind digitale Wertschöpfungszwillinge. Analog zum Digitalen Zwilling in der Produktion sollen hier die organisatorischen Beziehungen in der Wertschöpfungskette abgebildet werden.

Komplexe technische Fragen und grundsätzliche Herausforderungen

„Wir haben das als Konzept durchgespielt“, sagt Hertwig. Nun gibt es Gespräche für Konsortialprojekte, um die Idee des digitalen Wertschöpfungszwillings weiterzuentwickeln.

Doch neben den damit verbundenen komplexen technischen Fragen gibt es auch ganz grundsätzliche Herausforderungen. Denn für digitale Simulationen von Lieferketten braucht es ein hohes Maß an Kooperation zwischen den beteiligten Stakeholdern, um Transparenz herzustellen. Und daran mangelt es bisher zu oft. „Was wir als Problem festgestellt haben, ist die Bereitwilligkeit, Informationen zu teilen“, sagt Hertwig zu den Erkenntnissen seines Forschungsteams.

Und selbst dort, wo eigentlich die Daten vorliegen, gibt es Probleme bei der Automatisierung und Digitalisierung. Das zeigt sich zum Beispiel in der Logistik, wo inzwischen einheitliche Labels verwendet werden. „Die Logistiklabels sind aber nicht so weit standardisiert, dass man sie einfach einscannt und alle notwendigen Informationen hat, die man in seinem System braucht“, so Hertwig weiter.

Verhältnis von Aufwand und Nutzen der Datenaufbereitung oft negativ

Teils kommen QR-Codes zum Einsatz, doch ein automatisches Auslesen durch Kameras und Scanner sei in der Praxis schwierig, da die Labels oft sehr unterschiedlich positioniert seien. Auch unterschiedliche Schriften oder die Druckqualität machten Probleme. So würden die Informationen in der Regel weiter manuell abgelesen und händisch übertragen. Weshalb einige Mitglieder des Verbandes der Automobilindustrie gemeinsam an einer KI-Bilderkennungssoftware arbeiten, die die Daten auslesbar machen soll.

Solche Schwierigkeiten zeigen sich auch an anderen Stellen der Lieferketten. „Die Informationsgüte hat oft nicht die Qualität, um den Prozess durchgängig digital zu machen“, sagt Hertwig. Über lange Abläufe hinweg gebe es keine gemeinsame Sprache. Es seien daher beispielsweise einheitliche Austauschformate und Schnittstellen nötig. „Es braucht auch einen smarten Weg, wie man Daten strukturiert, um sie für Folgeprozesse aufbereitet lesbar zu machen“, sagt Hertwig.

Daher war es auch für die Fraunhofer-Experten schwierig, im Rahmen von ResiLike Prognosemodelle für Störungen der Lieferkette zu erstellen. „Es war ein riesiger Aufwand, Informationen zu aggregieren und damit Vorhersagen zu machen“, sagt Hertwig. „Das Verhältnis von Aufwand und Nutzen für die Datenaufbereitung ist dabei oft negativ.“

Wie das optimiert werden kann und welche Erkenntnisse aus ResiLike sich Unternehmen in der Praxis nutzbar machen können, ist Gegenstand verschiedener Transferprojekte, die derzeit geplant werden. Zudem werden die Ergebnisse des Projekts im Frühjahr in verschiedenen Webinaren vorgestellt.

Dass sich Unternehmen auch unabhängig von Corona mit diesen Fragestellungen stärker befassen sollten, scheint jedoch klar. „Ich bin überzeugt davon, dass etwa der Klimawandel mittel- und langfristig die Lieferkettenstrukturen unserer Industrie viel stärker beeinflussen wird als diese Pandemie“, sagt Julia Arlinghaus, die das Fraunhofer IFF in Magdeburg leitet. „In dem Moment, wo wir Umweltkosten bepreisen und damit die Transportkosten steigen, werden sich die Lieferketten drastisch verändern.“

Mehr Informationen zum VDE Supply Chain Management und Kontakt:

https://www.vde.com/shenzhen-de