Die neue Bundesregierung hat viel vor. Allen voran die Energiewende, die dazu führen soll, dass bereits bis 2030 rund 80 Prozent unserer Energie regenerativ erzeugt wird. Das verlangt ungeheure Anstrengungen bei der Energiegewinnung (aus Solar- und Windkraft), ihrer Speicherung und dem Transport. Hinzu kommen die Dekarbonisierung der Industrie und die Umstellung auf klimaneutrale Wärmeerzeugung. „Wir werfen den Turbo an“, so der neue Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne). Sein Kabinettskollege Dr. Volker Wissing (FDP) ist nicht minder ambitioniert. Im gleichen Zeitraum verspricht der neue Bundesminister für Digitales und Verkehr mindestens 15 Millionen elektrische Autos und den dafür nötigen Ausbau der Ladeinfrastruktur. Und mit einer Gigabitstrategie soll Deutschland zudem noch endlich den entscheidenden Schritt ins digitale Zeitalter machen – als „Booster“ für unsere hiesige Wirtschaft und Verwaltung, so Wissing. Schöne Worte, denen in der laufenden Legislaturperiode Taten folgen sollen. Viele Hürden sind auf diesem langen Weg zu nehmen. Über einige wie den Abbau der schleppenden Bürokratie und die Beschleunigung der Genehmigungsverfahren wurde bereits viel diskutiert. Andere dagegen sind noch nicht ausreichend in den Blick genommen worden. Dazu gehört das Thema Fachkräftemangel.
Notstand vor allem in der Elektrotechnik
Wirtschaft, Industrie, Verwaltung und Gesellschaft transformieren sich nicht von alleine. Anders formuliert: Das Wissen um die Notwendigkeit von Veränderungen ist hierzulande vorhanden, mit der dafür nötigen Manpower sieht es weniger gut aus. Diesen Missstand belegte zuletzt der MINT-Report des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Doch der Bericht macht auch deutlich, dass MINT nicht gleich MINT ist. In manchen MINT-Berufen ist die Arbeitskräftelücke viel größer als in anderen. Der größte Engpass findet sich ausgerechnet bei den Energie-/Elektroberufen. Also in jenem Fachbereich, der für die deutsche Wirtschaft und Industrie künftig besonders wichtig ist. „Unsere Industrie steuert ungebremst auf einen Expertenmangel zu“, warnt Dr. Michael Schanz, Arbeitsmarkt-Experte des VDE. Er hat für den jüngst erschienenen Report „Arbeitsmarkt 2022 – Elektroingenieurinnen und Elektroingenieure“ in den vergangenen Monaten viele erschreckende Zahlen zusammengetragen. Im Gespräch mit dem VDE dialog beschreibt er die Lage gerade für diese Berufsgruppe als „Drama in vier Akten“: Der erste Akt des Dramas sei die Zahl der Ruheständler, die für die kommenden Jahren ziemlich genau prognostizierbar sei. So muss nach den Berechnungen von Schanz damit gerechnet werden, dass in diesem und den darauffolgenden Jahren 13.200 Elektroingenieure und Elektroingenieurinnen in den Ruhestand treten und durch neue Fachkräfte ersetzt werden müssen. Das sind 32 Prozent mehr Menschen, die in Rente gehen, als noch vor sechs Jahren.
Der zweite Akt des Dramas ist laut Schanz der zu erwartende Zusatzbedarf. Denn es würden schließlich künftig nicht weniger Fachkräfte gebraucht werden, sondern deutlich mehr. Das liegt nicht zuletzt daran, dass diese nicht mehr nur in der traditionellen Elektroindustrie benötigt werden. Von der Energiewende bis zur Industrie 4.0, von der Elektromobilität bis zum autonomen Fahren, von der Digitalisierung bis zur Künstlichen Intelligenz – die Elektro- und Informationstechnik wird allerorten benötigt. Der dadurch entstehende Zusatzbedarf lag, so steht es in der VDE Studie, im Durchschnitt der letzten fünf Jahre bei rund 6.200 Arbeitskräften pro Jahr – und dürfte in den kommenden fünf Jahren noch steigen. Addiert man diese 6.200 zusätzlich benötigten Arbeitskräfte mit den 13.200, die in den Ruhestand gehen, kommt man schon auf einen neuen Bedarf von 19.400 Berufseinsteigern. „Das ist aus eigener Kraft durch die Hochschulen in unserem Lande auf gar keinen Fall zu schaffen“, fürchtet Bildungsexperte Schanz.
Der Schwund ist stark wie nie
Der dritte Akt des Dramas sind die (Zitat Schanz) „Schwundquoten in unserem Fach Elektrotechnik und Informationstechnik, die – von vielen unbemerkt – in schwindelnde Höhen geklettert sind“. 1993 lag der Schwund, also die Zahl derjenigen, die das Studium abbrachen oder das Fach wechselten, nur bei 30 Prozent – was in erster Linie an den Fachhochschülern lag, die das Studium deutlich häufiger zu einem Ende brachten als ihre Kollegen von der Universität. Das änderte sich jedoch in den folgenden Jahren. 2008 brach im Schnitt an beiden Hochschultypen jeder zweite Studierende ab. Heute sind es gar 63 Prozent. Die Zahlen haben sich demnach seit 1993 mehr als verdoppelt. Das hat oftmals nichts mit dem Fach und dem Studium an sich zu tun: Fächer ohne spezielle Zugangsbeschränkungen, zu denen die Elektro- und Informationstechnik zählen, sind bei Menschen beliebt, die gar nicht vorhaben, einen Abschluss zu erwerben. Sie schreiben sich an Universitäten oder Fachhochschulen ein, um mit diesem Status länger Kindergeld zu beziehen oder ein Semesterticket für den ÖPNV zu erhalten. Aber allein mit solchen Effekten die Schwundquote zu erklären, hieße, den Ernst der Lage zu ignorieren. Und damit zum vierten und letzten Akt des Dramas: den sinkenden Zahlen von Studienanfängern und Studienanfängerinnen in den Fächern Elektrotechnik und Informationstechnik. Insbesondere die Zahlen aus dem Jahr 2020 lassen aufhorchen. Sie zeigen einen Rückgang von 14,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Informatik gewinnt an Beliebtheit
Ein Teil des Verlusts ist dem allgemeinen Rückgang der Neustudierenden zuzuschreiben: So gingen die Studierendenzahlen aufgrund der Corona-Pandemie ohnehin zurück und in Niedersachsen fehlt ein ganzer Abiturjahrgang durch den Wechsel von G8 auf G9. Doch in den elektrotechnischen und verwandten Fächern ist der Verlust besonders gravierend. Das zeigen Zahlen aus dem Jahr 2021. Demnach schrieben sich hier mit insgesamt 13.100 Studierenden 4,3 Prozent weniger im Fach Elektro- und Informationstechnik ein als im Vorjahr. Auch die Zahlen im Maschinenbau und der Verfahrenstechnik (-9,2 Prozent) sowie beim Bauingenieurwesen (-3 Prozent) sind deutlich geringer. Aber: Im Studienfach Informatik stiegen die Einschreibungen(+6,4 Prozent), sodass nicht von einem allgemeinen Rückgang bei technisch orientierten Studiengängen geredet werden kann. Vielmehr wandern die Studierenden in das vermeintlich modernere Fach. Um dieses Problem abzubilden, hat VDE Bildungsexperte Schanz einen Beliebtheitsindex für technische Studiengänge entwickelt. Aus ihm geht hervor, dass noch 2010 rund 10 Prozent aller Studienanfänger eines Jahrgangs das Fach Informatik wählten. Heute ist Informatik mit 13 Prozent das beliebteste technische Studienfach. Demgegenüber sanken bei der Elektrotechnik die Zahlen von rund 5,4 Prozent auf heute nur noch 3,5 Prozent. „Das heißt, wir haben innerhalb von zehn Jahren gut ein Drittel an Beliebtheit verloren“, erklärt Schanz – und mahnt: „Das ist dramatisch und sollte uns aufrütteln.“
Woran das liegt, will Schanz im Rahmen einer weiteren Studie klären, die zum Redaktionsschluss noch nicht vorlag (siehe Seite 31). Klar scheint bisher nur, dass viel Potenzial auch dadurch vergeben wird, dass die Elektrotechnik gerade bei Frauen unbeliebt ist. Darauf weist auch der Anfang des Jahres vorgestellte Ingenieurmonitor des Instituts der deutschen Wirtschaft hin, der regelmäßig im Auftrag des VDI erstellt wird. Demnach steigt der Frauenanteil in den Bauingenieurwesen- (32,4 Prozent) wie auch den Informatikberufen (16,3 Prozent) kontinuierlich. Bei den Elektroingenieurberufen liegt der Anteil bei lediglich 9,8 Prozent. Schanz fand im Rahmen seiner Studie zwar heraus, dass sich die Zahlen der Studienanfängerinnen durchaus positiv entwickelt haben (von 10 Prozent in 2010 auf rund 17 Prozent in 2021). Allerdings: „Andere Ingenieurdisziplinen und die Informatik sind bei der Rekrutierung weiblicher Studierender noch deutlich erfolgreicher.“ Aus der (Innen-)Sicht von Elektroingenieuren sind diese schlechten Beliebtheitswerte erst einmal schwer verständlich. Zwar gilt das Studium als schwierig und anspruchsvoll, doch am Ende winkt ein spannender, krisenfester und meist sehr gut bezahlter Job. Und die Elektrotechnik steht im Mittelpunkt vieler Themen, die derzeit en vogue und in aller Munde sind. „Jeden Tag hören, lesen oder sehen die Menschen in den Nachrichten, welche Herausforderungen auf uns zukommen“, wundert sich Schanz – von Klimawandel bis Digitalisierung. „Und trotzdem bringen sie das einfach nicht mit unserem Beruf zusammen, obwohl es doch genau für diese Bereiche vor allem Elektroingenieure und -ingenieurinnen braucht.“