Digitalisierung und Automatisierung moderner Geschäftsprozesse
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25.03.2022 Publikation

"Ärmel hochkrempeln!"

Die digitale und grüne Transformation ist eine Zäsur. Nichts bleibt mehr, wie es mal war. Wünsche und Hoffnungen, wie die Zukunft aussehen soll, gibt es zuhauf. Jetzt geht es darum, konkrete Ziele zu formulieren, den Weg dorthin zu beschreiben und dann auch konsequent zu starten. Ansgar Hinz, Vorstandsvorsitzender des VDE, fordert dafür einen Masterplan.

Von Martin Schmitz-Kuhl 


Portraitfoto von Ansgar Hinz, VDE Vorstandvorsitzender, sitzend. Er trägt einen schwarzen Anzug.
Anja Rottke / VDE

Herr Hinz, von Ihnen stammt der Satz, dass wir uns „inmitten der fundamentalsten und weitreichendsten Transformation seit Beginn der Industrialisierung befinden“. Ist das jetzt gut oder schlecht?

Es ist vor allem erst einmal ein Fakt, der gesehen werden muss. Die industrielle Revolution war damals eine Disruption, die das ganze Leben hier bei uns nachhaltig verändert hat. Im Vergleich dazu waren alle folgenden Veränderungen im vergangenen Jahrhundert evolutionär. Heute erleben wir wieder einen solchen disruptiven Entwicklungssprung. Denn die Digitalisierung macht vor keinem Bereich halt, die Veränderung ist allumfassend und findet in maximaler Geschwindigkeit und Gleichzeitigkeit statt: die Transformation der Energie- und Mobilitätssysteme, die Remote-Medizin, die „All Electric Society“, Künstliche Intelligenz, Quantentechnologien und vieles mehr. Man weiß gar nicht, wo man anfangen und wo man aufhören soll. Im Grunde genommen steckt hinter allem die Erkenntnis, dass Wissen und Daten die industriellen Währungen der Zukunft sein werden. Also salopp gesprochen: Das Gold liegt praktisch in den Daten.

Die entscheidende Frage ist, wie Deutschland und Europa auf all diese Entwicklungen vorbereitet sind. Die Konjunkturprognosen für die hiesige Industrie sind ja – trotz Corona – erstaunlich positiv. Sind Sie es auch?

Meine Antwort ist „Jein“. Natürlich haben wir ein weiteres Erfolgsjahr hinter uns, und das ist Grund zu feiern. Trotzdem ist das für mich Fluch und Segen zugleich. Denn diese Erfolge können auch die bestehenden Probleme überdecken und verhindern, dass nun die richtigen Weichen gestellt werden. Wir müssen uns nämlich bewusst machen, dass der Wohlstand von heute auf dem Geleisteten der Vergangenheit beruht. Doch das reicht in diesem disruptiven Umbruch, von dem ich sprach, einfach nicht mehr aus! Die Erfolge von gestern werden uns nichts in das Morgen tragen. Deshalb fordere ich nachdrücklich, dass wir Deutschland und Europa disruptionsstabiler machen.

Etwas, das uns in der Pandemie auch schmerzlich bewusst wurde, ist die Abhängigkeit vom Weltmarkt und von Lieferketten, die eben auch reißen können. Welche Schlussfolgerungen müssen wir daraus ziehen?

Auf diese Frage gibt es zwei Antworten: Zum einen brauchen wir sicherlich teilweise eine Entkopplung von der aktuell existierenden Lieferkettenabhängigkeit. Im Kern geht es darum, langfristig wieder systemische Kompetenz in den Schlüsselindustrien aufzubauen, und zwar entlang der kompletten Wertschöpfungskette. Das haben wir schon lange nicht mehr – und das ist ein Problem! Hier brauchen wir wieder deutlich mehr technologische Souveränität – in allen Bereichen.

Portraitfoto von Ansgar Hinz, VDE Vorstandvorsitzender, sitzend. Er trägt einen schwarzen Anzug
Anja Rottke / VDE

Und die zweite Antwort?

Es wäre es ein fataler Irrglaube, wenn man meint, langfristig auf die globalen Produktions- und Absatzmärkte verzichten zu können. Deutschland und Europa sind keine Inseln, die allein überlebensfähig wären! Deshalb rede ich auch ganz bewusst nur von einer Teilentkopplung und dränge darauf, dass wir die Qualitätsüberwachung bestehender Lieferketten mehr in den Vordergrund stellen.

Selbst wenn wir keine Insel sind, gibt es von China aber auch eine möglicherweise verhängnisvolle Abhängigkeit, über die Zeiten der Pandemie hinaus. Denn wir reden hier nicht nur von einem wichtigen Handelspartner, sondern auch von einem – wie es heißt – „systemischen Rivalen“.

Ja, das ist so und damit muss man umgehen. Dennoch bleibe ich dabei, dass der Handel mit China für uns ein entscheidender Faktor für die deutsche Erfolgsgeschichte war und auch in Zukunft sein wird. Wir brauchen diesen größten Absatzmarkt in der Welt! Natürlich stehen wir vor dem Problem, dass dort vieles nicht so ist, wie wir uns das wünschen würden – sowohl was innen- und außenpolitische als auch was wirtschaftspolitische Fragen angeht. Wie darauf zu reagieren ist, wird ein politischer Balanceakt sein, der immer wieder neu zu bewerten ist.

Noch einmal: Hat nicht der Fall Russland mit Nordstream 2 gezeigt, dass es ein Problem ist, sich sehenden Auges in solche Abhängigkeiten zu begeben?

Wir dürfen das weder sehenden Auges machen noch die Augen vor solchen Gefahren verschließen – beides wäre fahrlässig und ignorant. Trotzdem bleibe ich dabei, dass man hier auch mit Augenmaß handeln und zweigleisig fahren muss: globaler Handel einerseits und Teilsouveränität andererseits. Aber um es klar zu sagen: Dass die USA bereits vor einigen Jahren begonnen haben, ihre Mikroelek­tronik-Kompetenz massiv hochzufahren, war in Anbetracht der Entwicklungen in China und Taiwan sicherlich die einzig richtige Entscheidung, um nicht ganz so erpressbar zu sein. Diesen Weg müssen auch wir gehen! Und wenn ich sehe, was hier in Europa gerade im Bereich der Batterietechnologie passiert, stimmt es mich durchaus zuversichtlich, dass dies auch geschieht. Zumindest in dieser Branche hat man offenbar „den Schuss gehört“.

Aber in Sachen digitale Transformation hat Ihrer Ansicht nach nicht jeder den „Schuss gehört“. Zumindest warnten Sie bereits vor einigen Jahren vor einer Lethargie. Zu Beginn der Pandemie zeigten Sie sich jedoch plötzlich zuversichtlicher und glaubten, die hiesigen Unternehmen seien damals aufgewacht. Wie schätzen Sie heute die Situation ein?

Bei unseren Mitgliedsunternehmen konnten wir in der Pandemie tatsächlich beobachten, dass die Umstellung der Standard-Geschäfts- und Kommunikationsprozesse sehr gut gelungen ist. Aber perspektivisch geht es ja um viel mehr. Und da bin ich in der Tat sogar deutlich besorgter als noch vor einigen Jahren. Hier müssen wir meiner Ansicht nach sehr aufpassen, um im weltweiten Wettbewerb nicht noch weiter abgehängt zu werden.

In welchen Branchen und Bereichen sind wir bereits abgehängt?

Bei einer ganzen Reihe von Digitalisierungsthemen, wie zum Beispiel bei der 5G-Technologie im Mobilfunk. Oder auch was unsere Wertschöpfungskettenkompetenz in den Bereichen der Mikroelektronik angeht. Ich fürchte leider auch, dass dieser Vorsprung schwer aufholbar ist. Aber es gibt andere Bereiche, in denen es aus meiner Sicht sehr viel mehr Licht als Schatten gibt – beispielsweise bei den erneuerbaren Energien und der Umwelttechnik, aber auch zum Beispiel bei der Quantentechnologie. Hier muss es uns sehr viel besser als in der Vergangenheit gelingen, dass unsere Innovationen auch hierzulande ihre Verwertung finden, wir also unseren Return on Investment bekommen. Nur so können wir es schaffen, als Player zwischen den beiden Hauptweltmächten – den USA und China – vorne mitzuspielen. Die Chancen dafür sind gut, sofern wir jetzt die Ärmel hochkrempeln und loslegen.

Portraitfoto von Ansgar Hinz, VDE Vorstandvorsitzender, sitzend

»Wir müssen aus  unserer Komfortzone rauskommen, in der  wir es uns in den letzten 70 Jahren etwas zu gemütlich eingerichtet  haben.«


| Anja Rottke / VDE

Gerade in der „grünen Transformation“ wird von vielen eine riesige Chance gesehen. Larry Fink, der Chef von BlackRock, sagt, dass die nächsten tausend Einhörner – also Start-ups mit einer Marktbewertung von über einer Milliarde US-Dollar vor dem Börsengang – aus der GreenTech kommen würden. Die Frage ist: Werden auch deutsche und europäische Unternehmen dabei sein?

Nun bin ich kein Prophet, aber die Chance besteht definitiv und ich bin da eigentlich sehr zuversichtlich. Schließlich reden wir hier über ein riesiges Feld, in dem die Unternehmen in Europa im Grunde genommen sehr gut aufgestellt sind. Und das gilt natürlich insbesondere für Deutschland, wo dieser Wandel ja auch politisch massiv verlangt wird.

Also ein Lob auf „Fridays for Future“, die man ja durchaus als Treiber dieser Entwicklung betrachten kann?

Dass die junge Generation auf die Straße gegangen ist und ein Umdenken eingefordert hat, ist auf jeden Fall zu loben. Aber es reicht meiner Ansicht nach nicht aus, zu sagen, wohin die Reise gehen soll. Wir müssen auch wissen, wie wir dort hinkommen. Und wir können uns nicht einfach von heute auf morgen und völlig überstürzt von fossiler Energie verabschieden, selbst wenn wir alle wissen, dass die Zukunft elektrisch sein wird. Um in dieser Zukunft anzukommen, brauchen wir stattdessen eine kluge Strategie, in der nach meiner Überzeugung zum Beispiel sicherlich auch der Verbrennermotor noch eine ganze Weile eine Rolle spielen wird, schon allein aus ökonomischen Gründen. Allerdings wird er dann vielleicht eben irgendwann nicht mehr mit fossilen, sondern mit synthetischen Kraftstoffen laufen.

Auf der anderen Seite ist die Klimaerwärmung nun einmal ein Problem, das keinen weiteren Aufschub mehr erlaubt. Von daher sollte man vielleicht nicht alles übers Knie brechen, aber ehrgeizige Ziele brauchen wir trotzdem. Oder sehen Sie das anders?

Nein, überhaupt nicht! Wir brauchen unbedingt sehr ehrgeizige Ziele, und um diese zu erreichen, müssen wir wieder lernen, auch mal „out of the box“ und disruptiv zu denken. Das heißt, wir müssen Dinge auch mal anders machen, als wir es die letzten 20, 50 oder 100 Jahre getan haben. Und vor allem brauchen wir eben eine kluge Strategie, die dann Schritt für Schritt und ganz konsequent umgesetzt wird. Nicht zuletzt deshalb fordere ich für Deutschland und Europa auch einen Masterplan! Darin muss es darum gehen, unsere umweltpolitischen Ziele zu erreichen, aber eben auch unsere wirtschaftspolitischen Ziele. Denn wenn wir uns dafür einsetzen, auch künftig international wettbewerbsfähig zu sein, hat das ebenfalls mit Verantwortung für die nächsten Generationen zu tun!

Wie könnte ein solcher Masterplan aussehen?

Es wäre vermessen, wenn ich einen solchen Plan jetzt an dieser Stelle durchdeklinieren würde. Wie in einem gut funktionierenden Unternehmen müsste eine solche Gesamtstrategie in der Führungsebene erarbeitet werden – natürlich unter Einbindung aller relevanten Experten und unter Berücksichtigung der entsprechenden Analysen. Dabei rede ich nicht von irgendeinem Papier, das erstellt wird und dann wieder in irgendeiner Schublade verschwindet. Ich rede von einem ganz konkreten Masterplan, mit Etappenzielen und Meilensteinen und ganz klaren Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten. Ob das dann ein Dreijahresplan oder ein Fünfjahresplan ist, spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass es klare Vorgaben gibt, an denen sich jeder messen lassen muss.

Das klappt so in China. Aber auch hierzulande?

Es muss! Auch in einem demokratischen und föderalen System, in dem wir glücklicherweise leben, muss die Politik in der Lage sein, die strategische Stoßrichtung zu setzen – selbst wenn da vielleicht auch mal Entscheidungen zu treffen sind, die nicht populär sind. Dafür brauchen wir in der Politik mutige, erfahrene und qualifizierte Menschen, die den Fortschritt in unserem Land nicht behindern, sondern vorantreiben. Ich sage es mal etwas provokant: Der Bürokrat muss zum Enabler werden!

Aber sind nicht Regulatorien – wie zum Beispiel der Datenschutz – zwangsläufig auch mit Bürokratie verbunden?

Der Amerikaner würde sagen: „Secure it, but enable it.“ Das heißt, Datenschutz und andere Regulatorien dürfen keine staatlich verordneten Fußfesseln sein. Wir müssen die Balance schaffen, ein Optimum an Sicherheit zu gewährleisten, ohne Innovationen und Technologien gleich von vorneherein abzuwürgen. Wenn wir es schaffen, uns auf eine sinnvolle und nötige Regulatorik zu beschränken, unbürokratisch und pragmatisch, kann diese übrigens auch ein Exportschlager werden. Safety und Security sind ebenso wie Sustainability nicht von Natur aus Hürden und Barrieren, hier liegen auch Chancen und Möglichkeiten für unser Land.

Zurück zum Masterplan: Letztlich umsetzen müssen die Strategie dann aber die Unternehmen, oder?

Genau. Und das gelingt nur, wenn der Industrie ein Spagat gelingt: Auf der einen Seite bleibt der Fokus auf eine kurzfristige Gewinnorientierung. Denn all der Umbruch, all die Veränderung müssen schließlich auch bezahlt werden.  Auf der anderen Seite muss die Industrie jedoch mittel- und langfristig auch die von der Politik gesetzten Ziele umsetzen. Und da geht es dann eben zum einen um das Vorhaben, Deutschland und Europa klimaneutral zu gestalten. Zum anderen geht es aber auch darum, hierzulande wieder eine vollständige Wertschöpfungskettenkompetenz aufzubauen, um der industriellen Produktionsübermacht von China ein Gegengewicht gegenüberstellen zu können.

Sie sprachen eben von „unpopulären Entscheidungen“, die auch zu treffen seien. Bei all diesen Vorhaben müssen wir aber die Menschen mitnehmen, oder?

Das ist sicherlich richtig. Klar ist aber auch, dass es in der Gesellschaft hier auch ein Stück weit zu einem Umdenken kommen muss. Wir müssen hier alle etwas aus unserer Komfortzone rauskommen, in der wir es uns in den letzten 70 Jahren vielleicht etwas zu gemütlich eingerichtet haben. Denn wenn Sie mal nach China schauen, ist es nicht nur die Staatsform, die uns unterscheidet. Auch der Mindset ist ein ganz anderer. Deshalb geht es meiner Ansicht nach jetzt darum, unsere Selbstzufriedenheit etwas abzuschütteln und den Anpack-Modus einzuschalten!

Sie haben die Politik, die Industrie und die Gesellschaft adressiert...

Richtig, es geht für mich um diese drei Aspekte: politische Verantwortung, industrielle Verantwortung und gesellschaftliche Verantwortung.

....jetzt müssten wir noch über Bildung und Ausbildung reden.

Manches kann man hier gerade so „copy and paste“ übernehmen. Auch in den Lehrplänen, der Didaktik und Pädagogik sind wir immer noch sehr stark im Bewährten verhaftet. Weder die Inhalte noch die Geschwindigkeit dessen, was wir am Markt erkennen, wird dort widergespiegelt. Dabei will ich gar nicht alles schlechtreden: Die aktuelle Generation Studierender ist sicherlich reflektierter und selbstbewusster, als wir es damals waren. Trotzdem bin ich zutiefst der Überzeugung, dass sich unser Ausbildungssystem, die Art der Informationsvermittlung, fundamental ändern muss. Ein Beispiel: Ich sprach eben von Wertschöpfungskettenkompetenz. Fakt ist, dass wir isoliert mit deutscher Kompetenz gar nicht mehr in der Lage wären, eine Hochvolumen-Chipfertigung hier in Deutschland aufzubauen. Denn die Kompetenzen sind schlicht woanders, vor allem in Taiwan. Und dieses Problem baut sich übrigens nicht erst im Studium auf, sondern bereits in der Schule.

Inwiefern?

Vieles im Bereich MINT ist einfach zu abstrakt und wirkt vielleicht erst einmal uncool. Hier müssen wir es schaffen, die komplexe Welt der Elektro- und Informationstechnik wieder greifbar zu machen und aus ihrer Abstraktheit in die Realität, ins tägliche Leben zu überführen. Ein Beispiel: Kürzlich war die „Sendung mit der Maus“ bei uns im Prüfinstitut, zusammen mit einigen Kindern, die dort eine Führung bekamen und auch selbst einige Sachen ausprobieren und werkeln konnten. Am Ende habe ich mitbekommen, wie Zwillinge zu ihren Eltern sagten, dass es ihnen viel Spaß gemacht habe und sie das später auch beruflich machen wollten. So soll das sein!

Stattdessen wird das Fach Elektrotechnik aber immer unbeliebter. Bräuchte es vielleicht eine Imagekampagne – wie zum Beispiel die des Handwerks, „der Wirtschaftsmacht von nebenan“?

Eine Kampagne könnte den Fokus darauf lenken, was Elektrotechniker können und leisten. Und sie könnte darauf hinweisen, dass wir sie unbedingt brauchen, um all die genannten Herausforderungen meistern zu können. Denn klar ist, dass der Fachkräftemangel eines der Kernprobleme unserer Zeit ist. Ohne die entsprechende Manpower – und besonders Womanpower! – nutzt auch der beste Masterplan für die industrielle Transformation nichts.


MARTIN SCHMITZ-KUHL

ist freier Autor aus Frankfurt am Main und Redakteur beim VDE dialog.