Das Dröhnen der Raketenmotoren erschütterte die Häuser noch in Dutzenden Kilometern vom Startplatz entfernt, wenn die mächtige Saturn V alle paar Monate zum Mond abhob – dem kühnsten Ziel des 20. Jahrhunderts. Eine noch abenteuerlichere Mission hinterließe sicher nicht nur ein paar zerbrochene Fensterscheiben. Im Takt eines ICEs würden danach Superraketen wie das neue Starship von SpaceX abheben und die unbeschwerte Umgebung von Cape Canaveral in einen akustischen Alptraum verwandeln. Ziel der Weltraumschwerlaster wäre, Tausende Raumfahrzeuge zum Lagrange-Punkt L1 zu fliegen, ein Punkt im Weltraum zwischen Erde und Sonne, an dem sich die Anziehungskräfte von Planet und Stern quasi aufheben. An diesem Ort der gravitativen Ruhe entfaltet dann jedes Fahrzeug ein 100 Quadratkilometer großes Segel, um im Ganzen einen riesigen Schirm zu bilden, der stabil zwischen Erde und Sonne schwebt. Ihre Aufgabe: der Erde Schatten zu spenden.
Das Hintergrund-Szenario für diese Massenstarts wäre, dass die Menschheit in Zukunft ihre Klimaziele verfehlt. Statt zwei Grad Celsius wie vom Weltklimarat angepeilt, heizt sich die Atmosphäre um mehr als sechs Grad auf – das obere Ende der prognostizierten Erwärmung bis 2100 – und droht ganze Regionen der Erde unbewohnbar zu machen. Doch läuft alles wie geplant, zeigen die Sonnensegel Wirkung. Sie halten zwar nur zwei Prozent der Sonnenstrahlung ab. Der Effekt kompensiert aber die menschengemachte Erwärmung und die Erde kühlt innerhalb weniger Jahre merklich ab. Gletscher wachsen wieder, Inseln tauchen aus dem Meer auf. Die Menschheit gerettet – vorerst.
Saubere Lösung oder nur eine verrückte Idee?
Dieser zugegeben fantastische Plan kommt aus der vergleichsweise kühlen norddeutschen Tiefebene, vom Bremer Standort des Satellitenherstellers OHB. 2019 als Ergebnis eines hausinternen Brainstormings geboren, haben die Hanseaten bis heute in fast 3000 Arbeitsstunden ein detailliertes Konzept erarbeitet, wie sich die Erderwärmung per Technologie stoppen ließe.
Wissenschaftler weltweit diskutieren zunehmend über Ideen des Geo-Engineering. Denn ob die naheliegende Lösung gelingt, die menschengemachte Erderwärmung zu stoppen, indem die Menschen weniger Kohlendioxid ausstoßen, ist fraglich. In den Blick rücken daher großtechnische Methoden, um die Umweltbedingungen auf der Erde gezielt in eine gewünschte Richtung zu bewegen. Der Sonnenschirm im All gehört dabei zu einer Gruppe von Konzepten, die den Strahlungshaushalt der Erde beeinflussen sollen. Andere Ideen sehen vor, CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen, indem man es im Boden einlagert (siehe auch VDE dialog 3/2021) oder im großen Maßstab aufforstet. Lassen sich die Sünden der vergangenen 200 Jahre also mit einem aufwendigen, aber letztlich kontrollierten Knopfdruck rückgängig machen? Nicht nur Ingenieure dürften sich die Frage stellen, ob es technisch überhaupt möglich ist, einen weltraumgestützten Sonnenschirm zu bauen. Tatsächlich ist allein die Dimension problematisch. Um eine kumulierte Abdeckung von mehr als ein bis zehn Millionen Quadratkilometern zu erreichen – ein Vielfaches der Landoberfläche der Bundesrepublik –, benötigt es mehr als 30.000 aufgespannte Einzelschirme. Sie alle müssen in konzentrischen Ringen angeordnet und beständig an ihrem Platz gehalten werden – 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt.
Das scheint utopisch. Doch ließe sich so ein Projekt in einem international koordinierten Kraftakt durchaus umsetzen. „Wir wollen den Plan nicht vermarkten, sondern das Thema untersuchen und eine Diskussion anstoßen“, schränkt Tomas Hamann ein, OHB-Ingenieur und Projektleiter der Studie. „Falls das Problem akut wird, müssen wir bereit sein.“
Um die Welt zu retten, ist das erforderliche Geld allerdings in anderen Großprojekten womöglich besser investiert. Im Vergleich mit anderen populären Geo-Engineering-Konzepten ist der Sonnenschirm deutlich teurer und langwierig zu bauen. Hamann und seine Kollegen rechnen mit Kosten von einer halben bis 17 Billionen Euro und mit mindestens 15 Jahren, um das Prinzip wenigstens zu demonstrieren. Doch aufgeben will Hamann den Sonnenschirm noch nicht. „Wir haben bei einer Reihe von Universitäten angefragt, ob sich das Konzept optimieren lässt. Kommendes Jahr wollen wir die Ergebnisse besprechen.“
Was machbar ist, ist nicht zwingend sinnvoll
Aber lässt sich das Klima durch Menschenhand überhaupt beeinflussen? „Wir machen das ja schon seit 100 Jahren“, sagt Gerrit Lohmann, Klimaforscher am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven, „und in den letzten 30 Jahren auf eine ziemlich brutale Weise.“ Selbst wenn gigantische Sonnensegel im All und andere Methoden des Geo-Engineering machbar sind, heißt das noch lange nicht, dass sie Sinn ergeben. Schließlich behandeln sie nur das Symptom, nicht die Ursache. „CO2 verursacht viele andere Probleme“, so Lohmann. „Die Ozeane versauern, die Korallen lösen sich auf. Die Ökosysteme ändern sich. Mit einem Sonnenschirm lässt sich das Problem nur überbrücken. Es gibt keine Lösung außer einer Energieform, die nicht auf Kohlenstoff basiert. Als einen Plan B sieht auch Hamann den Sonnenschirm nicht, eher als Notnagel: „Es wäre nahezu unethisch, wenn wir angesichts katastrophaler Auswirkungen und einem drohenden ökologischen Kollaps solche Technologien nicht näher untersuchen würden.“
Peter Michael Schneider ist Wissenschaftsjournalist und Autor.
Link:
Den ersten Teil des 6. Sachstandberichts des Weltklimarats (IPCC) finden Sie hier:
ipcc.ch/assessment-report/ar6/