Wer im Netz schon mal einen Urlaub gebucht hat, der weiß, was eine Plattform ist: Sie verschafft problemlosen Kontakt zu Hunderten Besitzern von Ferienwohnungen, ermöglicht Terminbuchungen, wickelt über Dienstleister die Abrechnung ab und bietet den kurzen Draht zu Anbietern von Zusatzservices wie Versicherungen, Mietwagen oder Freizeitangeboten vor Ort. Alles das geht sehr schnell, ist komfortabel und greift oft perfekt ineinander.
Im Gesundheitswesen ist das anders. Da kann ein Patient mit Diabetes vielleicht Daten des Blutzuckermessgeräts an seinen Diabetologen übermitteln. Aber für den Hausarzt oder das Krankenhaus braucht es einen anderen Kanal. Da werden Kontaktdaten im Rahmen der Corona-Pandemie ans Gesundheitsamt einzeln durchtelefoniert. Da laufen im Fall von Engpässen bei Blutkonserven die Telefone heiß, weil keine Blutbank weiß, was die andere auf Lager hat. Da fahren Patienten 45 Minuten zum Sanitätshaus und stellen fest, dass ihr Hilfsmittel gerade nicht vorrätig ist.
Plattformen im deutschen Gesundheitswesen? Fehlanzeige!
All das ist im 21. Jahrhundert komplett unnötig. Es lässt sich durch digitale Plattformen lösen, die offen sind und sich nicht abschotten. Das ist im Prinzip auch jedem klar. Was nicht so ganz klar ist: Wie kommt Deutschland da hin? Die Antwort des scheidenden Bundesgesundheitsministers lautete: Viele digitale Anwendungen einführen und hoffen, dass daraus ein interoperables Ökosystem entsteht. Teil eins hat funktioniert, Teil zwei bisher weniger. So gibt es heute digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA), die auf Papier rezeptiert werden. Es wurde eine elektronische Patientenakte (ePA) eingeführt, die kaum mit medizinischen Einrichtungen kommuniziert. Zum 1. Januar 2022 kommt das E-Rezept in einer staatlichen App, die weder mit Medikationsplänen noch mit den DiGA interagieren kann. Diabetes-Ärzte nutzen teils fünf verschiedene Cloud-Plattformen – aber keine kann mit der ePA der Krankenkassen auch nur das Geringste anfangen. Alles nicht optimal.
Aber ist das nicht auch in anderen Ländern so? Ibo Teuber, Director Healthcare bei Deloitte, nennt als Positivbeispiele Israel und die USA, wo es leistungsstarke digitale Versorgungsplattformen gebe, die rege genutzt würden. Das funktioniere, weil Health-Maintenance-Organisationen (HMO) sowohl Kostenträger als auch Anbieter von medizinischen Dienstleistungen seien – und sich für den Aufbau digitaler Plattformen zuständig fühlten, weil sie davon profitierten.
In Deutschland dagegen gibt es gesundheitssystembedingt bisher niemanden mit übergeordnetem Interesse an solchen Plattformen. Was es gibt, sind zwei Denkschulen. Die eine geht davon aus, dass sich die Plattformen quasi von selbst aus der Industrie entwickeln werden. Das tun sie aber nicht. Beispiel Diabetes: Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) versucht derzeit, dem Chaos bei diabetischen Cloud-Plattformen die Stirn zu bieten, indem sie semantische und technische Standards für eine Diabetes-Plattform vorantreibt, die „elektronische Diabetesakte“ (eDA). Nötig sei das geworden, weil die IT-Hersteller sich nicht auf ein einheitliches Vorgehen verpflichten ließen, sagt Prof. Dr. Dirk Müller-Wieland von der DDG. Nachdem die Fachgesellschaft schon 2017 einen Code of Conduct für digitale Diabetes-Tools formuliert hatte, ging sie auf die IT-Hersteller zu: „Das war teilweise schon etwas bemerkenswert“, so Müller-Wieland. Man sei regelrecht ausgelacht worden. Damit soll Schluss sein: „Wir werden eine sehr klare Erwartungshaltung formulieren. Es gibt sicher Anbieter, die meinen, sie können alles weiterhin unabhängig machen. Die Stärke einer durch eine DDG vorangetriebenen eDA ist, dass wir politisch und inhaltlich ein gewisses Gewicht bekommen.“