Dr. Cord Schlötelburg, frontal zur Kamera schauend, er trägt ein helles Hemd und einen grauen Sakko.

Dr. Cord Schlötelburg hat Biotechnologie in Berlin studiert und an der Charité promoviert. Beim VDE war er zunächst Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Biomedizinische Technik, um dann im Sommer 2020 den neu gegründeten Geschäftsbereich Health zu übernehmen

| VDE
28.09.2021 Publikation

„Mit der MDR wurde uns ein Bärendienst erwiesen“

Wie Medizintechnik „Made in Germany“ trotz Überregulierung erfolgreich bleibt: Einschätzungen von Dr. Cord Schlötelburg, Leiter des Geschäftsbereichs Health im VDE.


Kontakt
VDE dialog - Das Technologie-Magazin
OP-Saal, mittig eine schwarze Liege, drumherum verschiedene technische Geräte, rechts ein Roboterarm mit Kameralinsen
romaset / stock.adobe.com

VDE dialog: Die Corona-Pandemie muss doch ein regelrechtes Konjunkturprogramm für die Medizintechnikbranche gewesen sein, oder?

Dr. Cord Schlötelburg: Das habe ich anfänglich auch gedacht, aber das Gegenteil war der Fall. In einem aktuellen Report des Bundeswirtschaftsministeriums zur Gesundheitswirtschaft zeigt sich sehr deutlich, dass die Umsätze in der Medizintechnik eindeutig nach unten gegangen sind. Nur ganz wenige Sektoren haben von der Pandemie profitiert, beispielsweise der Bereich der Schutzprodukte.

VDE dialog: Woran liegt das?

Dr. Cord Schlötelburg: Der Hauptgrund ist der, dass viele medizinische Behandlungen in dieser Zeit schlichtweg ausgefallen sind. Hinzu kommt, dass wir ja nicht von einem „normalen“ Konsumentenmarkt sprechen. Die Produkte bezahlen in der Regel nicht die Nutznießenden, also die Patienten und Patientinnen, sondern letztlich die Gesundheitssysteme der verschiedenen Länder. Von daher können Sie davon ausgehen, dass die Pandemie in deren Budgets mit Sicherheit deutliche Spuren hinterlassen hat. Gerade ein so globaler Markt wie die Medizintechnik, und hier insbesondere ein so exportorientiertes Land wie Deutschland, bekommt das natürlich zu spüren.

VDE dialog: Trotzdem gilt Deutschland weiterhin als besonders innovatives Medizintechnik-Land. Mit 14.000 Patenten pro Jahr belegen wir im weltweiten Ranking Platz 2 hinter den USA. In welchen Bereichen sind denn die Deutschen besonders innovativ?

Dr. Cord Schlötelburg: In den klassischen Medizintechnikbereichen – also zum Beispiel alles, was im Bereich OP und Intensivmedizin zum Einsatz kommt –, aber genauso bei Implantaten und Prothesen. Hinzu kommt alles, was mit bildgebenden Verfahren zu tun hat: Röntgen, Ultraschall, MRT.  Eigentlich ist Deutschland durch die Bank weg sehr stark in der Medizintechnik, in fast allen Bereichen. Und eigentlich wird auch in all diesen Bereichen viel geforscht und entwickelt, insbesondere natürlich überall dort, wo Software zum Tragen kommt – und es gibt ja heutzutage kaum noch Bereiche, in denen nicht digitalisiert und vernetzt wird.

VDE dialog: Deutschland ist generell recht stark in Forschung und Entwicklung. Es gibt aber bekanntermaßen Schwächen, wenn es darum geht, diese Innovationen auf den Markt zu bringen. Auch im Bereich der Medizintechnik?

Dr. Cord Schlötelburg: Die Medizintechnikindustrie ist in Deutschland diesbezüglich gut aufgestellt. Das hat sicher auch damit zu tun, dass sie mittelständisch geprägt ist. Oft sind das Traditionsunternehmen, die sehr gut und sehr lange im Markt verankert sind. Auch kleinere Unternehmen sind in ihrer Nische nicht selten sogar Weltmarktführer, weil es ihnen eben aufgrund ihrer Marktkenntnis und Erfahrung sehr gut gelingt, Innovationen in marktfähige Produkte umzusetzen.

VDE dialog: Dann gibt es also in diesem Bereich nichts zu tun?

Dr. Cord Schlötelburg: So würde ich das nicht sagen. Denn in Deutschland wird ja auch viel außerhalb der Unternehmen geforscht und entwickelt: in Forschungseinrichtungen, Universitäten und Hochschulen sowie in vielen, meist öffentlich geförderten Forschungsverbünden. Und da sehe ich durchaus Luft nach oben, wenn es darum gehen soll, Forschungsergebnisse auch tatsächlich in Medizinprodukte zu überführen. Das Problem ist hier, dass die Fördersystematik oft nicht zu dem passt, was der Markt braucht.

VDE dialog: Können Sie das etwas erläutern?

Dr. Cord Schlötelburg: Wenn Sie als Universität oder Forschungseinrichtung eine Förderung beantragen, dann ist das sehr häufig eine Dreijahres-Projektförderung. Bei innovativen Projekten mit hohem Forschungs- und Entwicklungsbedarf ist das aber viel zu kurz. Da müsste man dringend mal die Förderprogramme anpassen. Oder ein anderes Beispiel: Nur sehr selten bilden Förderprogramme in Deutschland die Kosten ab, die für die Vorbereitung der späteren Zulassung der Medizinprodukte anfallen. Aber diese Kosten sind nun einmal real und nehmen auch immer mehr zu.

VDE dialog: Ist es auch ein Problem, dass der internationale Wettbewerb immer mehr zunimmt?

Dr. Cord Schlötelburg: Noch exportiert Deutschland jährlich Medizintechnikprodukte im Wert von 30 Milliarden Euro, gerade auch nach China. Aber das Land ist nicht nur ein riesiger Markt für Medizintechnik, sondern eben auch selbst ein immer stärker werdender Wettbewerber.

Der Druck nimmt zwangsläufig für deutsche Unternehmen zu, das lässt sich gar nicht vermeiden. Der Medizintechnikmarkt ist nun einmal global, weil die Stückzahlen, die im eigenen Land abgesetzt werden können, oft gering sind und man damit gezwungen ist, sich dem internationalen Wettbewerb zu stellen. Chinesische Hersteller haben hier einen doppelten Vorteil: Sie haben zum einen ihren riesigen Heimatmarkt – was die Produktentwicklung und -platzierung schon einmal deutlich einfacher macht. Und sie haben zum anderen eine sehr aktive staatliche Unterstützungspolitik, die die eigenen Unternehmen bevorteilt. Man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass hier ein gewichtiger Konkurrent heranwächst.

VDE dialog: Europäische Unternehmen leiden dagegen unter einer Regulierungsflut. Können Sie kurz erklären, was es mit der sogenannten MDR auf sich hat, die jetzt in aller Munde ist?

Dr. Cord Schlötelburg: Auslöser waren die einschlägigen Medizintechnikskandale, also der Skandal um Brustimplantate vor gut zehn Jahren und kurz danach der um die fehlerhaften Hüftprothesen. All das mündete dann im Mai 2017 in die sogenannte Medical Device Regulation (MDR), also die EU-Medizinprodukteverordnung. Nach einer vierjährigen Übergangsphase ist diese Verordnung nun für alle Hersteller bindend und führt seitdem zu viel Aufregung in der Branche.

VDE dialog: Ansgar Hinz, Vorstandsvorsitzender des VDE, bezeichnete jüngst die MDR als „Bürokratiemonster“ und „Innovationskiller“.

Dr. Cord Schlötelburg: Das sind drastische Formulierungen, die aber im Kern zutreffend sind. Im Prinzip ist das ein Gesetz, das die Hersteller dazu verpflichtet, eine unglaublich umfangreiche Dokumentation zu machen. Gegen Dokumentation ist nichts einzuwenden, das Problem ist jedoch das Ausmaß – und der Aufwand bzw. die Kosten, die damit zwangsläufig verbunden sind. Ich fürchte, die EU hat uns mit der MDR einen Bärendienst erwiesen. Denn natürlich will auch ich als Patient sichere Produkte haben, aber ich habe eben genauso ein Interesse daran, dass neue Produkte überhaupt noch in die medizinische Versorgung kommen.

VDE dialog: Als Problem wird auch immer wieder beschrieben, dass die MDR selbst sehr kompliziert ist.

Dr. Cord Schlötelburg: Ja, genau. Die MDR ist zum einen mit rund 90.000 Wörtern sehr umfangreich. Und zum anderen ist sie fehlerhaft und handwerklich schlecht formuliert. Es hat allein schon drei Änderungen gegeben, bevor sie überhaupt in Kraft getreten ist. Hinzu kommen ständig neue europäische Leitlinien, die versuchen, die MDR zu erklären. Unter dem Strich ist das gesamte Regelwerk sehr schwer verständlich und wirft viele offene Fragen auf. Das ist so, wie wenn Sie mit Ihrem Auto zur Hauptuntersuchung fahren, aber keine Ahnung haben, in welchem Zustand ihr Fahrzeug dafür eigentlich sein muss.

VDE dialog: Mit negativen Folgen für die ganze Branche.

Dr. Cord Schlötelburg: Natürlich! Das wird sicherlich auch wirtschaftliche Konsequenzen haben – gerade im Hinblick auf den eingangs diskutierten internationalen Wettbewerb. Wobei man allerdings auch konstatieren muss, dass nicht nur in Europa die Regulierung angezogen hat. Aber die zulassende Behörde in den USA hat dieses Problem zumindest inzwischen erkannt. Die bemühen sich gerade um einen Weg, die Zulassungen wieder etwas zu vereinfachen, ohne dass dabei die Patientensicherheit unter die Räder kommt. Leider ist man in Europa von einer solchen Erkenntnis noch weit entfernt. Hier wird es allenfalls zu einer Verlängerung der Übergangszeit kommen, die aber natürlich keine Lösung des Problems wäre.

VDE dialog: Fordert der VDE deshalb jetzt auch von der hiesigen Politik, dass sie handeln und die regulierungsgeschwächte Branche unterstützen soll?

Dr. Cord Schlötelburg: Ja, wobei ich wenig Hoffnung habe, dass die MDR noch einmal grundsätzlich angepackt wird. Umso wichtiger ist es daher, alles dafür zu tun, dass Unternehmen und andere Betroffene trotz MDR hierzulande weiterhin vernünftig arbeiten können. Das bedeutet zum einen eine Anpassung der Förderpraxis und zum anderen den Aufbau von Expertise auf allen Ebenen.

VDE dialog: Vom VDE gefordert wird auch ein globaler Medizintechnologie-Hub. Von Hubs wird ja immer gerne geredet, aber was heißt das konkret?

Dr. Cord Schlötelburg: Sie haben recht, Hub ist erst einmal ein Buzzword. Wir verbinden damit aber eine sehr konkrete Vision, mit der wir unter anderem verhindern wollen, dass nur die großen und erfahrenen Unternehmen mit der neuen Regulierung zurechtkommen und die kleinen und mittleren auf der Strecke bleiben. Dass also das eintritt, was in der Pharmabranche schon längst passiert ist. Denn diese Entwicklung ist leider inzwischen auch für die Medizintechnik vorhersehbar. Und wenn wir wollen, dass sich auch kleinere Akteure mit ihren guten Ideen und ihrer Innovationskraft durchsetzen können, müssen wir etwas für sie tun. Dann müssen wir ihnen ein entsprechendes „Environment“ zur Verfügung stellen, also eine Umgebung, in der diese Akteure intelligent gefördert werden und in der sie die nötigen Kompetenzen und das erforderliche Know-how schon frühzeitig vorfinden. In dieser Struktur sollten sie dann auch die richtigen Partner haben, mit denen sie gemeinsam den Weg auf den Markt und in die medizinische Versorgung realisieren können. Und die sollten von überallher und nicht nur aus Deutschland kommen.

VDE dialog: Welche Rolle kann der VDE dabei spielen?

Dr. Cord Schlötelburg: Unsere Kernaufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass innovative Technologien nutzbringend zur Anwendung kommen können. Da geht es um viele wissenschaftliche oder technische Fragen. Aber eben immer mehr auch um regulatorische. Durch die MDR haben wir in der Medizintechnik jetzt jede Menge zu tun. Das heißt derzeit vor allem, dass wir Herstellern helfen, Produkte regelkonform auf den Markt zu bringen. Dafür erarbeiten wir Leitfäden, Expertisen oder Normen und wir beraten zu allen Fragen der Zulassung von Medizinprodukten. Und natürlich ist es auch unsere Aufgabe, für Sicherheit bei Medizinprodukten zu sorgen und diese entsprechend zu prüfen und zu zertifizieren.

VDE dialog: Nicht nur durch die MDR, sondern auch durch den technischen Fortschritt hat sich diese Arbeit ja radikal geändert. Immer mehr geht es hier auch um Cybersecurity.

Dr. Cord Schlötelburg: Ganz genau! Und das eigentlich in fast allen Bereichen, denn wie eingangs schon erwähnt: Inzwischen ist sehr viel Technik vernetzt und kaum ein Produkt kommt noch ohne Software aus. Künstliche Intelligenz und Cybersecurity sind zu Schwerpunkten geworden und wir haben hier sehr viel Kompetenz aufgebaut. Regulatorisch sind beide Bereiche ausgesprochen anspruchsvoll.

VDE dialog: Sowohl aufgrund der Bürokratie als auch aufgrund der Digitalisierung und Vernetzung werden Produktentwicklungen also immer komplexer und schwieriger. Ketzerisch könnte man sagen, dass der VDE von diesen Entwicklungen profitiert, weil seine Dienstleistungen immer unverzichtbarer werden.

Dr. Cord Schlötelburg: (lacht) Wir sind eine gemeinnützige und damit nicht gewinnorientierte Organisation, von daher ist „Profitieren“ vielleicht nicht der richtige Begriff. Aber richtig ist sicherlich, dass die Nachfrage bei uns steigt und wir uns natürlich den neuen Anforderungen anpassen, Know-how aufbauen und damit wachsen müssen.