Die OP-Robotik ist in der Allgemein- und der Knochenchirurgie wieder deutlich im Kommen. Wie sieht es in den neurochirurgischen OP-Sälen aus?
Die Neurochirurgie unterscheidet sich von anderen chirurgischen Fächern unter anderem durch die hohe Bedeutung der Navigation. Die ist Standard. Stereotaktische Eingriffe, bei denen wir mit technischen Haltesystemen operieren, um zum Beispiel Elektroden präziser platzieren zu können, sind ebenfalls Standard. Im Moment geht es viel um die Weiterentwicklung von Navigation und Stereotaxie. Im Helios Klinikum in Erfurt arbeiten wir an virtuellen und funktionellen OP-Feldern, das heißt, wir optimieren das Monitoring und die Sensorik. Das ist ein wichtiger Schritt auch mit Blick auf robotische Systeme.
Wie sieht das konkret aus?
Ein Beispiel: Wenn wir einen Tumor in der Nähe der Gesichtsnerven operieren, dann bringen wir vorher eine Elektrode an, die den Nerv immer wieder stimuliert. An Zuckungen im Gesicht, wieder gemessen mit Elektroden, erkennen wir, wenn der Nerv durch unsere Manipulationen gefährdet ist. Dasselbe lässt sich auch mit anderen sogenannten eloquenten Nerven und Hirnregionen machen, also Gewebe, das funktionell sehr wichtig ist. Die Warnmeldungen werden wir demnächst auch in den OP-Saal integrieren, etwa durch Änderung der Beleuchtung. Es gibt auch Kleidungsstücke, die den Operateur zum Beispiel durch eine Vibration an der Schulter warnen. Da ist viel Entwicklungsdynamik drin. Ein weiterer Schritt in Richtung Robotik sind digitale OP-Mikroskope, die auf Roboterarmen montiert sind, wie das Aeos, welches wir gemeinsam mit Aesculap entwickelt haben oder, noch futuristischer, das RoboticScope des österreichischen Unternehmens BHS, das der Chirurg durch Kopfbewegungen steuert. Das Bild des OP-Feldes wird über eine Lupenbrille ins Gesichtsfeld projiziert, es braucht dazu also keine geschlossene VR-Brille. Das hat den Vorteil, dass der Chirurg das Geschehen im OP ganz normal im Blick haben und mit dem OP-Team kommunizieren kann.
Wie weit sind solche Systeme am Produktstatus bzw. der Zulassung als Medizinprodukt?
Teilweise gibt es die Zulassungen, teilweise steht das kurz bevor. An solchen und ähnlichen Systemen arbeiten derzeit mehrere Hersteller. Auch zum Beispiel Zeiss, Storz und Brainlab sind da sehr aktiv. Da wird sich einiges tun in naher Zukunft. Aber es ist eben noch keine echte Robotik.
Wo fängt in der Neurochirurgie die echte Robotik an, bei der Maschinen zumindest teilautonom agieren?
Wo wir das bereits haben, sind die stereotaktischen Operationen. Der Klassiker ist der Robotic Surgical Assistant (ROSA), der Trajektorien berechnet und die zugehörigen Bohrungen vornimmt. Das ist robotisch, aber der Roboter hat nicht viele Freiheitsgrade. In einer etwas anderen Liga spielt Elon Musk mit seinem Unternehmen Neuralink. Der von Neuralink entwickelte OP-Roboter ist quasi ROSA hoch zehn. Das System ist bisher noch nicht am Menschen eingesetzt worden, aber schon die Videoaufnahmen von Operationen an Versuchstieren sind spektakulär. Die setzen teilweise 100 Elektroden mit einem Durchmesser von knapp 30µm ins Gehirn ein. Ich hätte nie gedacht, dass das ohne Blutungen aus kleinsten Gefäßen funktionieren kann. Der Roboter nutzt eine Live-Kamera, die hochaufgelöst anzeigt, wo die Blutgefäße laufen, und die umfährt er dann einfach im Mikrometerbereich. In dieser Genauigkeit könnten wir das als menschliche Operateure niemals machen. Nun wollen wir natürlich nicht Musik direkt ins Gehirn streamen, wie Elon Musk das vorhat. Warum auch? Aber die Technologie ließe sich zum Beispiel bei der Parkinson-Versorgung einsetzen. Da platzieren wir die Elektroden im Moment ziemlich grobschlächtig. Das ginge mit Neuralink viel präziser, und es könnten viel mehr Elektroden genutzt werden. Wir könnten auch das Belohnungszentrum gezielt stimulieren. Das sind schon beeindruckende, manchmal auch beängstigende Szenarien, die da denkbar werden, und sie sind nicht mehr so weit weg.
Wie sieht es bei komplexeren neurochirurgischen Eingriffen mit der Robotik aus?
Klar ist, dass es hier Bedarf gäbe. Denken Sie an Eingriffe, bei denen Tumorgewebe von einem Nerven quasi „um die Ecke“ abgezupft werden muss. Hier wäre ein System, das die Freiheitsgrade und die Flexibilität eines da Vinci hat, sehr willkommen. Warum gibt es das noch nicht? Ein Problem ist immer noch die Zeitverzögerung bei der Signalübertragung. Die ist für Eingriffe am Gehirn zu lang, da kann es für den Patienten schon zu spät sein, wenn das System stoppt oder warnt. Das Zweite sind die sehr kleinen Zugänge, die am Gehirn nötig sind. Da gibt es noch Miniaturisierungsbedarf.
Wenn wir bei den komplexen Eingriffen in die ganz konkrete medizinische Anwendung gehen: Wo, denken Sie, wird die neurochirurgische OP-Robotik als Erstes einen echten Durchbruch erleben?
In der Tumorchirurgie, speziell bei Gliom-Operationen, sehe ich viele Möglichkeiten, wie das mit Robotik verbessert werden könnte. Diese Tumore lassen sich auch gut anfärben, was automatisierte Eingriffe erleichtert. Im Umfeld sensibler Nerven könnten schon kleine Aktuatoren einen echten Zusatznutzen bringen, das muss keine automatisierte Komplettoperation sein. Der zweite Bereich sind die Wirbelsäulenoperationen, vor allem die Verschraubungen. Das wird relativ bald robotisch gemacht werden, erste Lösungen gibt es schon. Der Unterschied zum Gehirn ist, dass wir hier starre Strukturen haben, da sind die Eingriffe relativ gut automatisierbar. Beim Gehirn haben wir immer das Problem, dass das Gehirn in Flüssigkeit eingebettet und beweglich ist. Das macht vieles schwieriger.