Drei Ariane Raketen im Weltall, vor einem Sonnenaufgang in orange-rotem Licht und blauem Horizont.
ESA - D. Ducros
12.07.2021 Raumfahrt Publikation

Wettrennen ins All

Längst ist die Raumfahrtindustrie ein Milliardenmarkt. Da verwundert es wenig, dass sich die Akteure geradezu einen Wettstreit um die Vorherrschaft im All liefern. Als wahre Triebfeder der Raumfahrt entpuppt sich die private Satellitenindustrie, für die sich ganz neue und lukrative Geschäftsmodelle auftun.

Von Peter Michael Schneider

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Am 30. März 2020 flogen am Startplatz des US-amerikanischen Raumfahrtunternehmens SpaceX im texanischen Boca Chica sprichwörtlich die Fetzen. Es regnete Trümmerstücke in allen Größen, die Reste von SN11, dem vierten Prototypen des neuen SpaceX-Raumschiffs „Starship“. SN11 war zunächst zehn Kilometer hoch aufgestiegen und nach dem Abschalten der Triebwerke wie geplant im Gleitflug zurück zur Erde gesunken. Doch statt sich für die Landung wieder aufzurichten, war es noch vor dem Aufsetzen in der Luft explodiert. Ursache: Eine undichte Treibstoffleitung. Schon die drei SN11-Vorgängermodelle waren ebenfalls in die Luft geflogen. Wer darin allerdings einen Beweis des Scheiterns erkennt, der täuscht sich. Es lässt sich daran lediglich ablesen, wie Elon Musk und seine Ingenieure die Entwicklung von Raketen angehen: schnell und mit einem ausgeprägten Trial-and-Error-Prinzip.

Verinnerlicht hat Musk diese Vorgehensweise im Silicon Valley, dem globalen Zentrum der Digitalisierung, wo er den Online-Zahldienst PayPal mitgründete. Dort gilt es nicht nur, das richtige Produkt anzubieten, sondern vor allem schneller als die Konkurrenz – und selbst nach Verkaufsstart wird es noch weiterentwickelt. Was dort als Einmaleins gilt, wirkt in der herkömmlichen Raumfahrt – bisweilen despektierlich Old Space genannt – äußerst gewöhnungsbedürftig. In der Welt von NewSpace hingegen, der neuen kommerziellen Raumfahrt, ist Musks Vorgehen vergleichsweise üblich. Dass dieses Prinzip funktioniert, zeigte dann auch der nachfolgende Testflug keine zwei Monate später: SN15 landete unversehrt. Dabei ist das Starship bereits Ausdruck einer neuen, zweiten Phase, eines NewSpace 2.0. Den ersten Abschnitt, gekennzeichnet von der Neugründung zahlreicher Raumfahrt-Start-ups und dem kometenhaften Aufstieg von SpaceX, hat Elon Musk zweifellos für sich entschieden. Er hat mit der äußerst erfolgreichen Falcon-9-Rakete der europäischen Ariane 5 und vor allem den russischen Raketen die Herrschaft im kommerziellen Satellitentransport abgenommen. In weniger als zehn Jahren eroberte SpaceX mit ihr zwei Drittel des Weltmarktes.

Nun konsolidiert Musk seine Marktmacht und die jungen Raumfahrtunternehmen bringen ihre Produkte auf den Markt. Zudem steht der Weltraumtourismus kurz vor dem Durchbruch und es entstehen die größten Satellitennetzwerke, die die Menschheit je gesehen hat.

Raumtransport: das Nadelöhr der Raumfahrt

Das sichtbarste und eindrucksvollste Element von NewSpace sind sicherlich Raketen. Denn der Raumtransport ist das Nadelöhr der Raumfahrt. Die Erde stellt eine derartig tiefe Gravitationsfalle dar, dass selbst die leistungsfähigsten Raketen nur einen Bruchteil ihres Gesamtgewichts als Nutzlast in eine Umlaufbahn befördern können. Die Ariane 5 wiegt fast 800 Tonnen. Ihre Tragfähigkeit in den geostationären Orbit, ihrem Haupteinsatzgebiet, beträgt jedoch nur etwa 10 Tonnen, also ein 80stel ihres Gesamtgewichts. Bei einem Startpreis von bis zu 200 Millionen Euro kostet es durchschnittlich etwa 20.000 Euro, ein Kilo Nutzlast in den Orbit zu transportieren – mit der bis vor kurzem noch „günstigen“ Ariane 5. Die Entwicklung preiswerter Raketen ist daher eines der Hauptziele von NewSpace – und der Raumfahrt insgesamt. Als Elon Musk, von Raumfahrt gänzlich unbeleckt, Anfang der 2000er-Jahre die Bühne betrat, fand er eine relativ erstarrte Raumtransportwirtschaft vor, die lediglich vom Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Auftauchen russischer Raketen auf dem kommerziellen Markt etwas durcheinandergewirbelt worden war. Mit nur 120 Millionen US-Dollar, die er beim Verkauf seines Anteils an PayPal verdient hatte, gelang es ihm 2008 zum Unglauben der Branche, nach nur drei Anläufen seine Kleinrakete Falcon 1 in den Orbit zu befördern.

Schneller, höher, weiter: Raumfahrt als Hase- und Igel-Spiel

Innenansicht der Kapsel SpaceShipTwo. Sechs futuristisch anmutende Sitze, die Passagieren Platz bieten.

Das futuristisch anmutende SpaceShipTwo von Richard Bransons Raumfahrtfirma Virgin Galactic soll Platz für sechs Passagiere und zwei Piloten bieten und Touristen mit dreifacher Schallgeschwindigkeit in den Weltraum befördern. Für die Gestaltung des Innenraums arbeitet Branson mit Designern von Rolls-Royce zusammen.

| Virgin Galactic

Musk hatte das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Die US-Regierung suchte angesichts des sich abzeichnenden Endes der Shuttles nach günstigeren Alternativen. Die NASA unterstützte SpaceX daher nicht nur bei der Entwicklung der größeren Falcon 9, sondern versah den unerfahrenen Newcomer auch noch mit einem lukrativen Versorgungsauftrag für die ISS. Als Folge war Musk in der Lage, Starts der Falcon 9 für umgerechnet nur 50 Millionen Euro anzubieten – geradezu ein Spottpreis im Vergleich zu anderen Anbietern.

Aus Sicht von Jeff Bezos trägt diese Erfolgsgeschichte tragische Züge. Auch der raumfahrtbegeisterte Amazon-Gründer baut an einer Trägerrakete. Nicht nur gründete Bezos sein Raumfahrtunternehmen Blue Origin schon 2000, also zwei Jahre früher als Musk SpaceX. Der reichste Mann der Welt steckte auch deutlich mehr Geld hinein, bis zu einer Milliarde US-Dollar jährlich. Wie Musk setzt er auf Wiederverwendbarkeit, um die durchschnittlichen Startkosten zu drücken. Dennoch ist es dem erfolgreichen Unternehmer bisher nicht gelungen, seine Schwerlastrakete New Glenn zu starten. Hingegen hoben Musks Falcon-Raketen inklusive der Schwerlast-Version Falcon Heavy bereits mehr als 110 Mal ab und transportieren mittlerweile sogar in SpaceX-Raumschiffen Menschen ins All.

Gerade erst ist der Starttermin der New Glenn auf Ende 2022 verlegt worden, zwei Jahre später als geplant. Grund: Bezos hat es bisher verpasst, seiner Rakete ähnlich lukrative Aufträge zu verschaffen wie Musk. 2020 schied er in einem Auswahlverfahren für Starts von Militärsatelliten aus. Zuletzt scheiterte er im April, wenigstens die Landefähre für die kommenden Mondlandungen zu bauen. Erfolgreich hingegen im gleichen Verfahren: SpaceX. Zwar klagt Blue Origin gegen die 2,9 Milliarden Dollar schwere Entscheidung der NASA – doch ob mit Erfolg, ist fraglich. Es wäre nicht das erste Verfahren, dass Bezos gegen Musk verliert.

Das Starship – noch mehr Unheil für die Ariane 6?

Eine helle Crew-Dragon Kapsel schwebt im Weltall und nähert sich der ISS.

Eine Crew-Dragon-Kapsel beim Andocken an die Internationale Raumstation ISS. Nach rund sechs Monaten an Bord der ISS sind die vier Astronauten der Crew 1 im Mai dieses Jahres wieder sicher zur Erde zurückgekehrt. Es war die erste reguläre Mission mit den bemannten Weltraum-Transportern des Unternehmens von Elon Musk.

| NASA / SpaceX

Die Situation dürfte für die Konkurrenz nicht einfacher werden, wenn es SpaceX gelingen sollte, das eingangs erwähnte Starship zusammen mit der „Super Heavy“ genannten Raketenstufe fertig zu bauen. In diesem Fall wird die Situation vor allem für die Europäer noch schwieriger, als sie schon ist. Zwar ist ihre neue Schwerlastrakete Ariane 6 nach elf Jahren Entwicklung fast fertig. Zudem soll sie – je nach Variante – mit 70 bis 115 Millionen Euro deutlich preiswerter sein als ihre Vorgängerin. Doch sie ist eine Heritage-Rakete – technisch gesehen eine günstigere Kopie der 5er-Version. Es ist fraglich, ob sie der Falcon 9 und auch der New Glenn Paroli bieten kann – und dem zukünftigen Starship sowieso.

Dabei beschränkt sich die Entwicklung preiswerter Raketen nicht auf den Westen. Auch Indien verfügt über eine preiswerte, allerdings staatliche Rakete, und vor allem in China gibt es neben den Langer-Marsch-Raketen eine Reihe von neuen Launchern, die bereits den Orbit erreicht haben. Während aber Indien regelmäßig Satelliten startet, bleibt China aufgrund des US-amerikanischen Technik-Embargos ITAR bisher vom kommerziellen Geschäft ausgeschlossen. Chinesischen Investoren scheint dieser Umstand keine Sorge zu bereiten. Mehrere Raketen-Start-ups sind dort in den vergangenen Jahren mit dreistelligen Millionensummen kapitalisiert worden.

Am Ende ist Raumtransport aber natürlich nur Mittel zum Zweck. Selbst der Umsatz der kommerziellen Raketenstart-Branche beträgt mit umgerechnet 4,2 Milliarden Euro nur einen Bruchteil von den gut 300 Milliarden, die mit Raumfahrt und ihren Produkten insgesamt umgesetzt werden. Den mit Abstand größten Anteil daran hat mit umgerechnet gut 230 Milliarden Euro die private Satellitenindustrie. Sie ist neben wissenschaftlicher Neugier – und militärischer Spionage – die hauptsächliche Triebkraft der Raumfahrt.

Raumfahrt für jedermann: Miniaturisierung und Digitalisierung

Seit der Jahrtausendwende schießen lukrative Geschäftsmodelle aus dem Boden. Ganze Schwärme kleiner Satelliten erschienen im erdnahen Orbit bis 1000 Kilometer Höhe. Seither hat sich ihre Zahl von etwa 1000 auf mehr als 3000 verdreifacht. Sie sind unter anderem in der Lage, Schiffen auf den Ozeanen zu folgen, nationale Ölreserven zu messen und Lecks von Ölpipelines zu finden – alles über automatische Suchalgorithmen. Denn nicht das Bild ist der Schatz, sondern seine digitale Auswertung. Eine weitere Ursache des Booms: In der Konsumelektronik und der Raumfahrt haben Digitalisierung und Miniaturisierung dazu geführt, dass leistungsfähige Elektronik für fast jedermann erschwinglich geworden ist. Mit COTS, components-off-the-shelf, Elektronik aus der Serienproduktion, können nun auch kleinere Unternehmen Satelliten bauen. Die oft nur wenige Kilogramm schweren Geräte kosten nicht mehr Hunderte Millionen Euro, sondern manchmal nur Hunderttausende. Die Entwicklung von NewSpace insgesamt lässt sich gut an den Investitionen in Start-ups, also den Geldflüssen abseits der etablierten Raumfahrtkonzerne, ablesen. Von 2000 bis 2005 wurde knapp eine Milliarde Euro in Start-ups investiert, in den sechs Jahren darauf (2006 – 2011) schon mehr als sechs Milliarden. Allein 2019 erhielten junge Raumfahrtunternehmen fast sechs Milliarden Euro. Gleichzeitig vervielfachten sich auch sowohl die Zahl der neu gegründeten Raumfahrt-Start-ups als auch der Investoren. Und so verwundert nicht, dass auch SpaceX in der Revolution der Satelliten mitmischt. In nur drei Jahren hat das Unternehmen rund 1670 Satelliten gebaut und in erdnahe Umlaufbahnen geschossen. Das Ziel des Starlink genannten Netzwerks: Breitband-Internet aus dem Weltraum (siehe Seite 18). SpaceX hat dabei einen äußerst solventen Investor: Google. Das Unternehmen der Tech-Milliardäre Larry Page und Sergey Brin investierte fast eine Milliarde US-Dollar in SpaceX. Aus Sicht des omnipräsenten Suchmaschinenbetreibers ist es eine logische Investition, so erreichen die Produkte des Web-Dienstleisters ihre Adressaten ohne Umweg.

Auch für ein Raumtransportunternehmen wie SpaceX macht ein großes Satellitennetzwerk Sinn. Nicht nur finanziert es im besten Fall die Marspläne seines Chefs – es kann auch seine Transportkapazitäten effizient auslasten. Je häufiger eine Rakete fliegt, desto günstiger wird im Durchschnitt jeder Start. Umso verwunderlicher wirkt die Ankündigung von Blue Origin, einen Teil der Satelliten des künftigen Amazon-„Kuiper“-Netzes – Jeff Bezos verfolgt den gleichen Plan – mit Raketen von Boeing und Lockheed Martin zu starten, statt mit seiner eigenen. Wie auch immer: Auch hier wird Jeff Bezos nach Musk ins Ziel gehen.

Die Touristen-Raumschiffe

In einem Wettbewerb hat Jeff Bezos noch die Chance, Erster zu werden. Mitte Mai, nach fast 20-jähriger Entwicklung und elf Jahre nach dem ursprünglich angekündigten Termin, kündigte Blue Origin an, im Juli Menschen ins All zu schießen. Tatsächlich fliegt die New Shepard genannte Touristen-Rakete einwandfrei, und auch die darauf montierte Kapsel ist unbemannt schon mehrfach wieder gelandet.

Das Nachsehen hätte in diesem Fall Richard Branson, der unmittelbare Konkurrent im Weltraumtourismus. Der britische Milliardär hatte nach dem umwerfenden Erfolg von SpaceShipOne, das 2004 als erstes privates Raumschiff den Weltraum erreichte, begonnen, einen Raumgleiter für sechs zahlende Passagiere zu bauen. Der SpaceShipTwo genannte Raumgleiter flog seither bei Testflügen zwar mehrfach an die Grenzen des Weltraums. Doch nach zwei tödlichen Unfällen ist bisher noch kein einziger Tourist mit Branson ins All gereist. Und so hat trotz Entwicklungskosten in Milliardenhöhe auch noch keiner der etwa 600 Passagiere auf der Warteliste die 250.000 Dollar bezahlt, die der knapp zweistündige Flug samt vierminütiger Schwerelosigkeit kostet. Denn im Gegensatz zu „echten“ Raumschiffen fliegt das SpaceShipTwo, genau wie Bezos Kapsel, gerade einmal 100 Kilometer hoch und lediglich auf einer suborbitalen Bahn, der steilen Kurve einer ins All geschossenen Pistolenkugel folgend.

Auch für Elon Musk wäre es eine neue Erfahrung, als Zweiter durchs Ziel zu gehen. Denn SpaceX plant ebenfalls, Hobby-Astronauten mit dem Crew Dragon von SpaceX ins All zu schicken – allerdings erst im September. Der Trost für die vier SpaceX-Passagiere: Es wäre nicht ein schnöder Abstecher ins Weltall, kaum 100 Kilometer hoch, sondern ein echter orbitaler Flug um die Erde.

Zu den Livestreams des SpaceX-Testgeländes in Texas:

www.youtube.com/LabPadre

Testflüge der Blue-Origin-Rakete New Shepard sind hier zu sehen:

www.youtube.com/blueoriginchannel

Offizielle Facebook-Seite von ESA-Astronaut Matthias Maurer:

www.facebook.com/ESAMatthiasMaurer

Facebook-Astro-Chat mit Matthias Maurer:

https://m.facebook.com/watch/544873375637658/4232229850181405/?__tn__=C

PETER MICHAEL SCHNEIDER ist Wissenschaftsjournalist und Autor. In seinem Buch „Goldrausch im All“ beschreibt er den Aufstieg von Elon Musk und die Revolution privater Unternehmen im Weltraum.