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Volkswagen AG
18.01.2021 AUTOMOBILINDUSTRIE Publikation

Vision gegen Tradition

Während es in der deutschen Automobilindustrie knirscht, schafft Tesla mit dem Bau des Werks in Brandenburg Fakten. Mit umfassenden Strukturänderungen versuchen die etablierten Hersteller nun, zu alter Stärke zurückzufinden. Von Richard Backhaus

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Tesla Motors

Als Elon Musk im November 2019 die Pläne einer Fahrzeugproduktion von Tesla in Deutschland verkündete, kam das einer Kampfansage an die heimische Automobil­industrie gleich. Beginnend mit der Fertigung des Model Y sollen in Deutschland zukünftige Fahrzeugmodelle für die weltweiten Märkte entworfen, entwickelt und hergestellt werden. Anfang Januar 2020 startete das Genehmigungsverfahren für den Aufbau einer Fahrzeugfertigung im brandenburgischen Grünheide. Seitdem kocht die Gerüchteküche, auch dadurch angeheizt, dass das behördliche Verfahren aktuell noch läuft und die Kommunika­tion von Tesla an Klarheit und Transparenz vermissen lässt. Schon im Sommer 2021 will Tesla demnach mit der Produktion in Deutschland starten, rund 12.000 Beschäftigte sollen dann eine halbe Million Autos im Jahr herstellen. Weitere Ausbaupläne umfassen eine Verdopplung der Fertigungskapazitäten auf bis zu einer Million Einheiten und eine Vergrößerung der Beschäftigtenzahl auf 40.000. Zudem möchte Tesla eine Batteriefertigung installieren.Tesla selbst gibt an, dass Produkttechnik und Produktionsmethoden der sogenannten Gigafactory Berlin-Brandenburg auf dem allerneuesten Stand sein werden, einschließlich einer hochmodernen Gießerei und einem effizienten Karosserie­bau. Aktuell sucht Tesla dazu Mitarbeiter in den Bereichen Ingenieur- und Bauwesen, Produktion und Operations. „Die Ankündigung von Elon Musk zeigt, wie wichtig der Automobilstandort Deutschland für den Hochlauf der Elektro­mobilität in Europa ist. Sollten die Pläne in einigen Jahren umgesetzt werden, bedeutet dies einen weiteren Schub für die Elektromobilität. Eine Ansiedlung von Tesla in Deutschland stärkt den Automobilstandort Deutschland“, erklärte der damalige Präsident des Verbands der Automobil­industrie (VDA), Bernhard Mattes, im November 2019. Die Frage ist jedoch, warum diese Stärkung von außen überhaupt nötig ist.

Krisenstimmung in der deutschen Automobilindustrie

Bei den deutschen Automobilherstellern kriselt es, und das nicht erst seit der COVID-19-Pandemie. Zwar ist der Automobilbereich mit mehr als 800.000 Beschäftigten nach wie vor einer der wichtigsten Industriezweige in Deutschland, allerdings warnte der VDA schon im Herbst 2019 vor einer weiter zurückgehenden Auslastung, Kurzarbeit und einer Reduzierung der Mitarbeiterzahl bei Leiharbeitern und in der Stammbelegschaft. Viele der in den vergangenen Monaten angekündigten Entlassungen bei Automobil­herstellern und Zulieferern sind daher als Maßnahme im Rahmen einer langfristigen Restrukturierungsstrategie zu werten. Der weltweite Pkw-Absatz ging 2019 auf rund 80 Millionen Fahrzeuge zurück – ein Minus von fünf Prozent gegenüber dem Vorjahr. Problematisch daran ist, dass sich die deutschen Automobilhersteller diesem allgemeinen globalen Trend nicht entziehen konnten, sondern voll davon getroffen wurden. Tesla hingegen muss seine Kunden mit langen Wartelisten vertrösten. „Während sich in Deutschland Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gegenseitig bei der Entwicklung von Elektroautos, dem Aufbau einer einheitlichen Ladeinfrastruktur und der Erzeugung von grünem Strom den Schwarzen Peter zuschieben, baut Elon Musk einfach seine Fahrzeuge samt Ladeinfrastruktur, betätigt sich als Stromanbieter und schafft so einen Börsenwert, von dem andere Hersteller nur träumen können“, stellt Dr. Thomas Becks, Leiter des Bereichs Services und Produkte beim VDE, fest. An dieser Stelle wird den deutschen Automobilherstellern gerne der Vorwurf gemacht, die Elektromobilität verschlafen zu haben. „So einfach ist das aber nicht, immerhin arbeiten die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen schon seit mindestens zehn Jahren an Elektro­fahrzeugen und können auch technologische Erfolge vorweisen. Es hapert eher an der konsequenten Umsetzung in Serienkonzepte“, sagt Dr. Ralf Petri, Leiter des Geschäftsbereichs Mobility beim VDE. „Hier zeigt sich ein strukturelles Problem. Das Geschäftsmodell und damit der gesamte Horizont der etablierten Automobilindustrie ist darauf ausgelegt, ihre bestehenden Produkte immer weiter zu verbessern und in hohen Stückzahlen zu produzieren, nicht aber, auf dem vielzitierten weißen Blatt Papier oder dem leeren PC-Monitor eine komplette technologische Neuentwicklung aufzusetzen.“ Das umfasst einerseits die Wertschöpfungskette bei Herstellern und Zulieferern, andererseits aber auch die Methodik, wie Innovationen geschaffen und ins Fahrzeug integriert werden. Hier hat sich über viele Jahre ein Prozess etabliert, bei dem neue Funktionen Stück für Stück entwickelt und von jeweils separaten Abteilungen und Projektteams ins Fahrzeug integriert werden. „Vorteile dieses evolutionären Entwicklungsansatzes sind hohe Funktions- und Produktqualität bei niedrigen Kosten. Ein Nachteil ist die Trägheit bei der Umsetzung revolutionärer Konzepte wie der Elektrifizierung des Antriebs, die viele Bereiche des Fahrzeugs und des Unternehmens gleichermaßen betreffen“, sagt Petri.

Ein weiteres Manko dieses Ansatzes ist die hohe Anzahl an elektronischen Steuergeräten, die sich in den Fahrzeugen angesammelt hat. Da über lange Zeit neue Funktionen jeweils separat entwickelt und mit einem eigenen Steuergerät ins Fahrzeug implementiert wurden, umfasst die elek­trische/elektronische Architektur heutiger Fahrzeuge bis zu 100 Controller, die im Fahrzeug als abgeschlossene Einheiten arbeiten und auch nur eingeschränkt kompatibel sind. Daraus entsteht eine Komplexität, die kaum noch beherrschbar ist, zumal Zukunftsentwicklungen wie das automatisierte Fahren nur durch eine starke Vernetzung der Steuergeräte untereinander gelingen können. Zu den Herausforderungen bei der Hardware kommt die Datenexplosion: Hatte ein Auto vor zehn Jahren noch rund zehn Millionen Zeilen Softwarecode, wird die Software von automatisiert fahrenden Fahrzeugen zwischen 300 und 500 Millionen Codezeilen umfassen. „Bereits in heutigen Autos stecken rund 100 Millionen Zeilen Softwarecode. Die Zukunft der Mobilität kann nur gestalten, wer über umfassende Elektronik- und Softwareexpertise verfügt“, sagt Dr. Stefan Hartung, Geschäftsführer von Bosch. Die traditionelle Softwareentwicklung in einzelnen, voneinander unabhängigen Bereichen gerät da zunehmend an ihre Grenzen.

Teslas Vorteil: Es gibt keine Technikaltlasten

Das Problem dieser Technikaltlasten kennt Tesla noch nicht. „Ein Tesla ist quasi ein Supercomputer mit einem über die Cloud updatefähigen Betriebssystem, um das ein Fahrzeug herum konstruiert wurde“, so Becks. Die aktuelle sogenannte Hardware 3, mit dem das Model 3 sowie Model S und Model X ausgerüstet sind, vereint die Steuerung aller automatisierten Fahrfunktionen und des Infotainmentsystems in einem Bauteil. Dazu wurden zwei Rechner, getrennt durch eine Flüssigkeitskühlung, aufeinandergestapelt. Der erste Chip ist ein mittels Künstlicher Intelligenz programmierter Hochleistungsrechner für die Fahrfunktionen, der zweite ein Controller für das Infotainment. Wie das japanische Nachrichtenportal Nikkei Asia im Februar 2020 berichtete, sind sogar Fachleute der Branche vom konsequenten Aufbau des Hardware-3-Moduls überrascht. Die Kompetenz von Tesla im Softwarebereich zeigt sich auch beim Elektroantrieb. Zwar sind die Hardwarekomponenten der Fahrzeuge eher als Standardlösungen anzusehen, sei es der Elektromotor, die Leistungselektronik oder gar der Batteriepack, allerdings sorgt eine sehr gut programmierte und ständig aktualisierte Software für ein hocheffizientes Zusammenspiel aller Komponenten. Becks: „Das Ergebnis ist ein Gesamtantriebssystem, dessen Performance aktuell als Benchmark anzusehen ist.“

Deutsche Automobilindustrie punktet beim traditionellen Maschinenbau

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Giga Berlin wird die Tesla Gigafactory in Grünheide auch genannt. Anfang 2020 startete das Genehmigungsverfahren für den Bau, der Bau begann im ersten Quartal 2020. In der Gigafactory soll zunächst das neue Model Y für Europa und später auch das Model 3 produziert werden, zudem Batterien und Antriebsstränge.

| Tesla Motors

Der Vorsprung der deutschen Automobilhersteller gegenüber Tesla erstreckt sich derzeit auf den Bereich, der vom klassischen Fahrzeugbau abgedeckt wird. Und da hat Tesla fraglos noch erheblichen Verbesserungsbedarf: In der alljährlichen Qualitätsstatistik des Marktforschungsunternehmens J.D. Power belegte das US-Unternehmen im Jahr 2020 den unrühmlichen letzten Platz. Die Probleme reichen vom Glasbruch der Seitenscheiben bis zur Ablösung ganzer Karosseriepartien während der Fahrt, von Feinheiten wie Spaltmaßen oder Lackfehlern ganz zu schweigen (s. a. Kasten S. 19). Allerdings zeigt die Studie von J.D. Power auch, dass die Fahrer trotz der offensichtlichen Mängel zufrieden mit ihrem Tesla sind. Offenbar spricht Tesla mit seinem Angebot aktuell Kunden an, die unterschiedliche Prioritäten setzen zu Käufern anderer Fahrzeuge. Das kann sich allerdings schnell ändern, wenn die Marktdurchdringung von Tesla größer wird und neue Kundengruppen erschlossen werden, die weniger fehlertolerant sind. Es ist davon auszugehen, dass sich Elon Musk Deutschland für seine Expansionspläne in erster Linie ausgesucht hat, weil er hier eine etablierte Entwicklungs- und Fertigungsstruktur vorfindet. Trotz Dieselskandal: Weltweit gilt Deutschland nach wie vor als Automobilstandort höchster Produktionsqualität und Entwicklungsleistung mit hochqualifizierten, allerdings auch gut bezahlten Fachleuten.

Natürlich haben auch die etablierten Automobilhersteller und -zulieferer das Problem erkannt und steuern gegen. Laut VDA investieren die deutschen Automobilhersteller bis zum Jahr 2024 50 Milliarden Euro in die Elektro­mobilität und weitere 25 Milliarden Euro in die Digitalisierung. Allein 2018 betrugen die weltweiten F&E-Aufwendungen der deutschen Automobilindustrie nach Angaben der Europäischen Kommission 44,6 Milliarden Euro. Damit entfällt mehr als ein Drittel der gesamten weltweiten F&E-Ausgaben der Automobilbranche auf die deutsche Automobilindustrie. Und wie das Deutsche Patentamt meldet, kam aus Deutschland 2019 fast die Hälfte der weltweiten Patentanmeldungen zum Elektro­antrieb, deutlich abgeschlagen folgten Japan mit 17 Prozent, die USA mit 13,6 Prozent und China mit 4,7 Prozent. Der Ruck der deutschen Automobilindustrie geht bis in die Abteilungs- und Hierarchiestrukturen. Einer der Vorreiter ist der Branchenriese Bosch. Das Unternehmen hat eigens einen neuen Geschäftsbereich gegründet, in dem ab 2021 rund 17.000 Mitarbeiter Elektroniksysteme und Software für alle Fahrzeugbereiche zentral entwickeln. „Software aus einer Hand zu liefern, ist unsere Antwort auf die immense Herausforderung, Autos immer stärker zu digitalisieren“, so Harald Kröger, Geschäftsführer der Mobilitätssparte von Bosch. Parallel kümmert sich der neue Bereich um die Entwicklung von Fahrzeugcomputern, Steuergeräten und Sensoren. Der Fokus liegt dabei auf Hochleistungsrechnern, die die einzelnen Steuergeräte ersetzen sollen und eine durchgängige IT-Architektur für das gesamte Fahrzeug schaffen.

Ein Beispiel aufseiten der Automobilhersteller ist Volkswagen. „Car.Software“ nennt sich die neue Organisation, in der der Konzern die Elektronikentwicklung derzeit zentralisiert. Der Fokus liegt auf der Umsetzung einheitlicher Softwareumfänge für alle Marken und Märkte. Hoffnungsträger des Unternehmens sind das Fahrzeugbetriebssystem VW.OS inklusive Anbindung an die Datencloud sowie die neue elektrische/elektronische Architektur „E3“. Dabei verschmelzen die bislang im Fahrzeug verteilten Steuergeräte wie bei Tesla zu einer zentralen Ebene mit zwei Hochleistungsrechnern. Grundlegende Funktionen wie Antriebs- und Bremsenmanagement verbleiben allerdings noch auf ihren separaten Steuergeräten. Teile des Konzepts einschließlich einer Software-Updatefähigkeit wurden schon in die neue Elektrofahrzeugplattform „ID.“ integriert. Das Komplettpaket aus VW.OS, der konzerneigenen Datencloud und der E3-Elektronikarchitektur soll für das nächste, bei Audi entwickelte Elektroauto und ab 2025 für alle neuen Konzernmodelle bereitstehen.

Ob Tesla zu diesem Zeitpunkt noch als so stark und innovativ wie heute gilt, muss sich erst noch zeigen. „Letztlich werden auch bei Tesla mit zunehmender Größe Organisationsstrukturen und Hierarchien entstehen, die das Unternehmen unbeweglicher machen. Die Frage ist, wann das so weit sein wird und wie das Unternehmen mit diesem Problem dann umgeht“, so das Fazit von Petri. Es ist eben einfacher, ein wendiges Motorboot durch Untiefen zu manövrieren als einen schwerfälligen Ozeanriesen.

RICHARD BACKHAUS beschäftigt sich als Journalist und PR-Experte mit Themen rund um die Automobiltechnik.

Ärger mit der Radaufhängung

Die Meldungen über Qualitätsprobleme bei Tesla scheinen derzeit kein Ende zu nehmen: Wie Mitte Oktober bekannt wurde, haben die chinesischen Behörden einen Rückruf von rund 30.000 Fahrzeugen der Modelle Model S und Model X angeordnet, die zwischen September 2013 und August 2017 gefertigt wurden. Der Defekt betrifft die vordere Radaufhängung, konkret die Kugelgelenke einer Verbindungsstrebe am hinteren Querlenker. Durch übermäßigen Verschleiß können sich in den Kugelzapfen der Gelenke offenbar Risse bilden, was im Extremfall zum Totalversagen der Federung führen könnte. Es ist nicht das erste Mal, dass Mängel der Vorderradaufhängung der Modelle Model S und Model X öffentlich werden. Schon 2017 hatte Tesla eine Servicemitteilung herausgegeben, in der es heißt, dass einige Komponenten möglicherweise nicht den Festigkeitsstandards entsprechen. Auch hier waren die Defekte auf die Kugelgelenke zurückzuführen.

Nicht nur die vordere, auch die hintere Radaufhängung macht Tesla Probleme: Knapp 20.000 Fahrzeuge des Modells S, die zwischen September 2013 und Januar 2018 hergestellt wurden, mussten wegen Problemen an den Verbindungsstreben der hinteren Radaufhängung zurückgerufen werden.