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Absprerrung oeffentlichen Verkehrsmittel

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18.01.2021 Publikation

DAS ENDE DER VERKEHRSWENDE?

Ohne Verkehrswende kann Deutschland weder die nationalen noch die international vereinbarten Klimaschutzziele erreichen. Die Herausforderung lautet, den Verkehr bis 2050 klimaneutral darzustellen. Doch welche Folgen hat die COVID-19-Pandemie auf das Mobilitätsverhalten und damit die Verkehrswende? Von Richard Backhaus

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Mobiltätsmix

Insbesondere in Ballungsräumen spielen digitale Angebote im Mobilitätsmix eine wichtige Rolle. Die einzelnen Verkehrsmittel sind flexibel nutzbar, agieren zunehmend vernetzt und kooperierend und erleichtern dadurch die multimodale Nutzung unterschiedlicher Verkehrsträger.

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Während der Treibhausgasausstoß aller anderen Sektoren der Volkswirtschaft seit 1990 stetig gesunken ist, hat der Straßenverkehr mit ständig steigenden Kohlendioxidemissionen zu kämpfen. Zwar ist der Ausstoß pro Fahrzeug und Kilometer durch die Weiterentwicklung der Fahrzeugtechnik in den vergangenen Jahren erheblich gesunken, dieser Effekt wurde aber durch ein höheres Verkehrsaufkommen mehr als kompensiert. Eine Lösung des Problems ist die Neuausrichtung des Straßenverkehrs hin zu einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten, vernetzten Mobilität – die vieldiskutierte Verkehrswende. Nach wie vor ist der private Pkw für viele Menschen ein wichtiges Verkehrsmittel, in größeren Städten verliert er aber bereits an Bedeutung. Hier wachsen der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) sowie der Fuß- und Radverkehr mit dem per Car- oder Ridesharing genutzten Auto zu einem Verbund zusammen. Die Mobilität wandelt sich zu intermodalen Konzepten, bei denen der Verkehrsteilnehmer zwischen verschiedenen Verkehrsmitteln wechselt. Ein Autofahrer ist also nicht mehr an sein Fahrzeug gebunden, sondern tauscht es flexibel – je nach Situation und Verkehrslage – gegen andere Verkehrsmittel aus. Dazu zählen neben Bus und Bahn künftig auch automatisiert fahrende Personentransporter oder ein E-Scooter für den letzten Abschnitt einer Reise, die sogenannte Last Mile. Pionier in diesem als Mobility as a Service (MaaS) bekannten Bereich ist der Finne Sampo Hietanen, der mit seiner Whim-App schon in mehreren europäischen Städten ein multimodales Angebot geschaffen hat, das verschiedene Verkehrsträger zusammenführt. Der Kunde bezahlt seine Fahrt pauschal und mixt aus dem Gesamtangebot flexibel die Verkehrsmittel, die ihn aktuell am schnellsten zum Ziel bringen.

Dass MaaS im Trend liegt, zeigen auch die Ergebnisse einer Umfrage, die forsa im Auftrag der Standort­initiative „Deutschland – Land der Ideen“ Mitte des Jahres 2020 durchgeführt hat. Große beziehungsweise sehr große Chancen sehen 71 Prozent der Befragten vor allem darin, Mobilität effizienter zu gestalten – konkret durch nahtlose Anbindungen, weniger Leerfahrten oder Zeitersparnis auf täglichen Wegen. 69 Prozent erwarten eine Verbesserung der Verkehrssicherheit, 67 Prozent die Optimierung bedarfsgerechter Mobilität. Durchschnittlich 57 Prozent gehen davon aus, dass ein vernetztes Mobilitätsangebot zur Erreichung der Nachhaltigkeits- beziehungsweise Klimaschutzziele beitragen kann. Als im März die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in Deutschland einsetzten, trat jedoch erst einmal auch das Mobilitätsbedürfnis auf die Bremse: Insgesamt 82 Prozent der von „Deutschland – Land der Ideen“ Befragten haben angegeben, insgesamt seltener als zuvor unterwegs gewesen zu sein. Aus Klimasicht besonders problematisch: 21 Prozent wollen künftig verstärkt den Pkw nutzen.

Der Shutdown hat die flexiblen Mobilitätsangebote ausgebremst

Mobilitätsverhalten

Ohne eigenes Auto? Die Ergebnisse der forsa-Umfrage machen deutlich, welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf das Mobilitätsverhalten der Menschen hat: Zwar gaben 35 Prozent der Befragten den Willen an, häufiger aufs Rad zu steigen, 21 Prozent aber äußerten die Absicht, häufiger den Pkw nutzen zu wollen.

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Im Zuge des Corona-Shutdowns wurde das Angebot von Mieträdern, Elektrotretrollern und anderen flexiblen Mobilitätsformen in den großen Städten überwiegend eingestellt. Obwohl viele der ÖPNV-Nutzenden aufs Auto umstiegen, ging auch der Pkw-Verkehr insgesamt zurück. Zugelegt hat in dieser Zeit lediglich der Fuß- und Radverkehr im urbanen Raum. Besonders hart hat es den ÖPNV getroffen: Mit 50 bis 90 Prozent Fahrgastverlusten je nach Unternehmen und Region ist der öffentliche Verkehr im Frühjahr fast zum Erliegen gekommen. Wie die Manage­mentberatung civity festgestellt hat, war dabei nicht jeder Ort und jeder Verkehrsträger gleichermaßen betroffen: Während am Hamburger Hauptbahnhof noch rund ein Drittel der üblichen Passantenfrequenz bestand, lagen die Rückgänge am Flughafen München eher bei 80­ Prozent. Die wichtige Rolle des ÖPNV für die Mobilität in Ballungsregionen und damit als Hebel für die Verkehrswende zeigte sich am Beispiel einer S-Bahn-Station in Berlin, wo die gemessenen Werte immer noch bei der Hälfte des Ausgangsniveaus lagen. „Der ÖPNV ist nach wie vor das Rückgrat der Pendlerströme in unseren Städten. Er ist und bleibt alternativlos“, erklärt Friedemann Brockmeyer, Partner bei civity Management Consultants. „Das Coronavirus hat massive Folgen für den deutschen ÖPNV und die Verkehrswende. Im besten Fall sind es zwei verlorene Jahre, im schlechtesten Fall verlieren wir ein halbes Jahrzehnt“, fasst Brockmeyer die Situation zusammen. So oder so müssen die Betreiber des ÖPNV mit erheblichen finanziellen Einbußen rechnen. Allein im ÖPNV in Deutschland beläuft sich das vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen e. V. (VDV) geschätzte Defizit bis Ende des Jahres 2020 auf 5 bis 7 Milliarden Euro. Europaweit wird mit 40 Milliarden Euro Fahrgeldeinnahmeverlusten gerechnet. Auch im besten Fall – also einer schnellen Normalisierung der COVID-19-Situation in den nächsten Wochen – erreicht der ÖPNV laut civity erst im Jahr 2022 wieder Vorkrisenniveau und gewinnt zuvor an das Fahrrad und den motorisierten Individualverkehr verlorene Marktanteile zurück.

Damit verschärfen sich die ohnehin schon enormen Probleme im öffentlichen Verkehr deutlich. Verkehrsunternehmen müssen mehr investieren, um Hygienekonzepte umzusetzen, bei gleichzeitig weniger Fahrgästen und dadurch weniger Einnahmen. Hinzu kommt der schon im Vorfeld angestrebte und kostenintensive Ausbau des Angebots. Dr. Volker Deutsch, Fachbereichsleiter ­Integrierte Verkehrsplanung beim VDV: „Die Herausforderungen werden nach Corona die gleichen sein wie vorher, sobald sich die Pendler- und Verkehrsströme normalisieren. Deshalb muss weiter kontinuierlich an einer Politik der Mobilitätswende – mit mehr ÖPNV, Rad- und Fußverkehr – gearbeitet werden. Neben den bereits verbesserten Fördermöglichkeiten bei der Schieneninfrastruktur bedarf es einer Digitalisierungsoffensive sowie der Förderung hochwertiger Bussysteme.“

Zunehmende Digitalisierung und neue MaaS-Angebote als Erfolgsfaktoren

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Neustrukturierung des öffentlichen Verkehrsraums: Der Modellversuch der autofreien Friedrichstraße in Berlin gibt Radfahrern eine vier Meter breite Durchfahrt auf der Fahrbahn. Auch Fußgänger, Gastronomie und Handel bekommen mehr Platz, zum Beispiel durch die Umnutzung von Parkraum.

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Mit den mittel- und langfristigen Auswirkungen der Corona-Krise auf die Mobilität beschäftigt sich unter anderem die Denkfabrik Agora Verkehrswende. Gemeinsam mit dem Deutschen Institut für Urbanistik (Difu), dem Deutschen Städtetag, dem Deutschen Städte- und Gemeindebund (DStGB) und dem VDV hat sie eine Studie durchgeführt, die Handlungsmöglichkeiten der Kommunen und den Handlungsbedarf bei Bund und Ländern aufzeigt. Als Grundlage dienten Erfahrungsberichte und Analysen aus aller Welt, denn letztlich haben sowohl die Umwelt- als auch die Corona-Probleme globale Ausmaße. „Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und die drohende Zunahme des Autoverkehrs sind eine Gefahr für die Stadt als Lebens- und Wirtschaftsraum. Umso wichtiger ist es, jetzt schnell und entschlossen gegenzusteuern. Die Verkehrswende ist dafür wichtiger denn je“, so Christian Hochfeld, Direktor von Agora Verkehrswende.

Ein Erfolgsfaktor für die Umgestaltung der Mobilität könnte die zunehmende Digitalisierung mit neuen MaaS-Angeboten sein. „Raum für neue Geschäftsmodelle gibt es unter anderem bei digitalen Dienstleistungen, die die Auslastung der Fahrzeuge des ÖPNV optimieren“, sagt Nathalie Teer, Referentin Mobility beim Digitalverband Bitkom. Über Kameras oder Sensoren werden dazu die Fahrgastströme an den Bahn- oder Bussteigen aufgenommen, gesammelt und ausgewertet. „Mit diesen Daten lässt sich dann die Taktung der Fahrzeuge bedarfsgerecht anpassen, sodass Überfüllungen zu Stoßzeiten und Leerfahrten bei geringer Fahrgastfrequenz vermieden werden.“ Aktuell sind diese Dienste zwar noch in der Erprobung, sollen aber schon in der nahen Zukunft als einsatzreife Lösung zur Verfügung stehen. Hinzu kommt, so ein weiteres Ergebnis der Untersuchung von Agora Verkehrswende, dass die Bereitschaft, Gewohnheiten zu überdenken und digitale Angebote anzunehmen, im Zuge der Pandemie gestiegen ist. Sanfte Impulse sind für viele Fachleute allerdings nicht ausreichend, um die Verkehrswende grundsätzlich wieder auf Kurs zu bringen. Attraktiver muss der ÖPNV aus Sicht von Agora Verkehrswende auch dadurch werden, dass die Pkw-Nutzung unattraktiver gemacht wird. Um die Verkehrsflächen neu aufzuteilen, müssten umweltfreundliche Angebote nicht nur gefördert, sondern auch der motorisierte Individualverkehr eingeschränkt werden, so die Forderung. Zentral sei dafür die Umwidmung von Park­raum und Autospuren für Fußgänger, den Rad- und öffentlichen Verkehr oder auch für Gastronomie und Handel. Weitere effektive Instrumente seien höhere Parkgebühren, Geschwindigkeitsbegrenzung und Verkehrsberuhigung. Bund und Länder sollten den Kommunen hier mehr Handlungsspielraum eröffnen und die rechtlichen Voraussetzungen anpassen, etwa durch Änderungen im Straßenverkehrsgesetz und in der Straßenverkehrsordnung, so die Einschätzung von Agora Verkehrswende. Hilmar von Lojewski, Beigeordneter für Verkehr im Deutschen Städtetag: „Bund, Länder, Kommunen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft müssen an einem Strang ziehen, um Erfolge für die Verkehrswende zu erzielen. Diese Erfolge müssen sich an drei Faktoren messen lassen: mehr Klimaschutz, wirksamerer Umweltschutz und bessere Lebensqualität für die Menschen in Städten und Regionen.“ An Ideen, wie diese Ziele erreicht werden können, scheint es nicht zu mangeln. Ob jedoch im Wahljahr 2021 der politische Wille vorhanden ist, das Thema konsequent anzupacken und die Weichen für die Verkehrswende der Nach-Corona-Zeit zu stellen, ist fraglich. Das sollte aber ohnehin nicht darüber hinwegtäuschen, dass letztlich jeder Einzelne mit seinem eigenen Mobilitätsverhalten für den Erfolg oder Misserfolg der Verkehrswende mitverantwortlich ist.

RICHARD BACKHAUS beschäftigt sich als Journalist und PR-Experte mit Themen rund um die Automobiltechnik.


Weiterführende Links:

https://www.bitkom.org/Bitkom/Publikationen/Chancen-fuer-Mobility-as-a-Service-Geschaeftsmodelle.html

www.agora-verkehrswende.de/veroeffentlichungen/ein-anderer-stadtverkehr-ist-moeglich/

www.civity.de/de/matters/verkehrswende-aufgehoben-oder-aufgeschoben-corona-szenarien-f%C3%BCr-den-oepnv/

www.vdv.de/pospap-kurs-halten-final-28-08-2020.pdfx

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