Jahrzehntelang wurde der Wasserstoff als wegweisende Zukunftstechnologie gepriesen. Und doch ging es kaum voran. Mit ihrer Erfahrung aus der Raumfahrt bauten Ingenieure der damaligen Deutschen Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt (DFVLR) schon im Jahr 1978 einen BMW zum ersten deutschen Wasserstoffauto um. Der Tank nahm den ganzen Kofferraum ein. Betankt wurde der Wagen an einer eigens entwickelten Zapfsäule. Doch am Ende landete das Auto mitsamt der Technik im BMW-Museum in München, noch ehe die Wasserstoffzukunft begonnen hatte. Im Jahr 1987 nahm die DFVLR mit dem Projekt Hysolar in Saudi-Arabien sogar ein erstes Mini-Kraftwerk in Betrieb, in dem mit Strom aus Photovoltaik Wasserstoff erzeugt wurde. Die Anlage hatte nur eine geringe Leistung, doch zeigte sie schon damals, dass die Technik reif war. Das Bundesforschungsministerium und das Land Baden-Württemberg hatten das Projekt mitfinanziert. Dennoch blieb der Wasserstoff ein Stiefkind. Weder die Politik noch die Industrie wollten ihn wirklich haben: Zu kompliziert und zu teuer sei die Technologie; nicht konkurrenzfähig neben der etablierten Motoren- und Kraftwerkstechnik, die ganz auf fossile Energieträger und Kernenergie setzte. Und so blieb es lange Zeit: Die Ingenieure hatten den Ehrgeiz, den Wasserstoff zu einem sauberen Energieträger der Zukunft zu machen – denn bei seiner Verbrennung entstehen weder Kohlendioxid noch andere Abgase, sondern nur Wasser. Doch am Ende ließ die Zukunft mehr als 40 Jahre lang auf sich warten.
Großer Bahnhof für den Start in die Wasserstoffzukunft
Jetzt aber soll alles anders werden. Mit einem Mal ist der Wasserstoff das große Thema auf der Energie-Agenda in Deutschland und in ganz Europa. Die Bundesregierung hat im Juni ihre Wasserstoffstrategie verabschiedet und damit einen Coup gelandet: In Sachen Wasserstoff soll in den kommenden Jahren geklotzt und nicht mehr gekleckert werden. Bis zum Jahr 2040 sollen in Deutschland Elektrolyseanlagen zur Wasserstoffproduktion mit einer Gesamtleistung von 10 Gigawatt aufgebaut werden – jene Anlagen, in denen mit Strom Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff gespalten wird. Zum Vergleich: 10 Gigawatt entsprechen der Leistung von etwa 3000 mittelgroßen Windrädern. Anfang Juli folgte dann der europäische Aufschlag. Die Europäische Kommission veröffentlichte Details zu ihrer künftigen „Hydrogen Srategy“, ihrer neuen Wasserstoffstrategie: Bis zum Jahr 2030 sollen Elektrolyseure mit einer Kapazität von 40 Gigawatt in Europa aufgebaut werden, heißt es darin. Hinzu sollen noch einmal 40 Gigawatt außerhalb der Europäischen Union kommen – insbesondere in Nordafrika. Für den Start in eine echte Wasserstoffzukunft ist das beachtlich.
Dass der Wasserstoff nach so langer Zeit endlich zum bestimmenden Energie-Thema geworden ist, hat seinen Grund. Langsam, aber sicher hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Energiewende allein durch die Elektrifizierung der Gesellschaft nicht zu schaffen ist. „Wir können nicht alles verstromen“, sagt die Expertin für Energiepolitik Kirsten Westphal von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. „Viele energieintensive Industrieprozesse, etwa in der Stahlherstellung oder der Chemie, aber auch der Verkehr und der Transport brauchen Brennstoffe. Sie können nicht ohne Weiteres elektrisch betrieben werden. Der Wasserstoff schließt hier eine Lücke in der Energiewende.“ Kirsten Westphal gehört dem Nationalen Wasserstoffrat an, der die Bundesregierung berät. Sie kennt die Herausforderungen sehr gut. Sicher sei, dass es keinen deutschen Alleingang geben könne. „Einfach, weil wir allein in Deutschland auf lange Sicht nicht ausreichend regenerativ erzeugten Strom bereitstellen können, um grünen Wasserstoff zu produzieren.“ Insofern sei unter anderem eine Kooperation mit sonnenreichen Staaten nötig. „Es geht aber auch darum, international eine große Nachfrage nach Wasserstofftechnologien zu erzeugen – nur international kann eine kritische Masse erreicht werden, die letztlich dazu führt, dass die Kosten für die Technologie sinken. Denn noch ist der Wasserstoff im Vergleich zu Gas, Kohle und Öl zu teuer.“
Die Sonne der großen Flächenländer im Süden ist kostbar für Europa
Wirft man einen Blick in die deutsche Wasserstoffstrategie und die europäische Hydrogen Strategy, wird deutlich, dass die nordafrikanischen Staaten als künftige Wasserstofflieferanten und -erzeuger im Mittelpunkt stehen. Kirsten Westphal hält das für vernünftig, weil in Sachen Energiewirtschaft bereits heute enge Beziehungen zwischen Europa und Nordafrika bestünden – etwa im Strommarkt zwischen Marokko und Spanien sowie Tunesien und Italien. „Im Grunde können bei der Wasserstofferzeugung leicht all jene Staaten zusammenarbeiten, mit denen wir bereits heute über den Strommarkt kooperieren – beispielsweise auch die Türkei und die Ukraine.“ Die Sonne in den großen Flächenländern im Süden und in Südosteuropa zu nutzen, um Europa mit Wasserstoff zu versorgen, wäre absolut sinnvoll. „Letztlich würde das insbesondere den wirtschaftlich schwächeren Nachbarn im Süden eine interessante Perspektive bieten.“
Überhaupt hat der Wasserstoff für Kirsten Westphal wichtige geopolitische Komponenten. Sollte es künftig tatsächlich gelingen, Wasserstoff zum „Öl der Zukunft“ zu machen – wie Bundesforschungsministerin Anja Karliczek unlängst sagte –, dann bedeutet das auch, dass die etablierte Erdgas- und Mineralölindustrie langfristig das Nachsehen hat. „Wenn zum Beispiel Russland oder den arabischen Staaten das Geschäftsmodell wegbrechen sollte, dann kann das durchaus zu Verwerfungen führen – mit diesen Staaten gemeinsam in eine Wasserstoffzukunft einzusteigen, ist daher wichtig“, sagt Kirsten Westphal. Zwar würden für Unternehmen wie beispielsweise die russische Gazprom fossile Energieträger mittelfristig das Kerngeschäft bleiben; doch habe man auch in Russland die wachsende Bedeutung des Wasserstoffs erkannt: Die Atomenergiegesellschaft Rosatom etwa arbeitet an der Produktion von Wasserstoff mithilfe von Atomstrom.
Auch sonst tut sich in Sachen Wasserstofftechnologie weltweit eine ganze Menge. Japan etwa will verstärkt Wasserstoff aus Australien einführen. Zwar wird Wasserstoff in Australien derzeit noch aus Kohle wenig nachhaltig produziert. Doch angesichts der großen Flächen und der intensiven Sonneneinstrahlung gilt das Land unter Experten schon heute als schlafender Riese, was die Erzeugung von Strom aus Photovoltaik und eine daran angeschlossene Wasserstoffproduktion angeht. Japan ist arm an Rohstoffen und deckt einen Teil seines Energiebedarfs bislang mit Flüssigerdgas, das per Schiff geliefert wird. Auch der Wasserstoff soll künftig per Schiff kommen.