Herr Khanna, in Ihren Büchern kommen Sie zu dem Schluss: Die Weltwirtschaft ist längst nicht so vollständig globalisiert, wie es den Anschein hat. Warum?
Die Börsen sind global organisiert, die Kommunikationsströme fließen global. Aber wenn man einmal genau hinschaut, welchen Routen die weltweiten Handelsbewegungen folgen, entdeckt man schnell starke regionale Kraftzentren, die eine hohe interne Anziehungskraft haben. In Europa finden zwei Drittel des Gesamthandels im Binnenmarkt statt, in Asien sind es rund 60 Prozent. In Amerika haben sich seit dem Beginn des Handelskriegs zwischen China und den USA die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Mexiko, Kanada und den USA deutlich verstärkt. In Afrika ist diese Entwicklung noch nicht so weit fortgeschritten, aber auch dort sind die Zeichen stärkerer Vernetzung innerhalb der Region deutlich zu sehen.
Aber hat sich nicht gerade in der Corona-Krise gezeigt, wie abhängig viele Unternehmen etwa von Zulieferern in China sind?
Es gibt diese Abhängigkeit von China, es gibt aber auch schon seit einigen Jahren eine Gegenbewegung. Viele Unternehmen arbeiten daran, weniger abhängig von China zu werden – sie wollen nur noch diejenigen Produktionskapazitäten dort vorhalten, die sie auch für den dortigen Absatzmarkt benötigen, nicht aber von China aus für alle globalen Märkte produzieren.
Man nennt das den „Nearshoring-Trend“ – welche Folgen hat er?
Chinas Nachbarn treten aus dessen Schatten, und die Produktionsnetzwerke innerhalb der asiatischen Region werden gestärkt – auch durch alternative Handelsrouten, die in Konkurrenz zur chinesischen Seidenstraßeninitiative entstehen. Speziell Südostasien wird geostrategisch an Einfluss gewinnen. Durch die Corona-Krise ist das Bewusstsein für internationale Abhängigkeiten in vielen Ländern gewachsen. Politiker werden sich fragen: Welche Produktionsketten, welche Produkte sind für uns geostrategisch so wichtig, dass wir sie in die eigene Region zurückholen müssen? Wir werden sehen, dass viele Regierungen in den nächsten Monaten und Jahren entsprechende Anreize setzen werden. Viele Produktionskreisläufe werden dadurch verändert, der Trend zur Entwicklung regionalerer Märkte verstärkt.
In Branchen wie der Elektroindustrie scheint es allerdings nahezu unmöglich, die Produktion einiger wichtiger Komponenten ganz nach Europa zurückzuholen – teils aus Kostengründen, teils weil das Know-how fehlt.
Dass man einige geostrategische Lieferketten zurückholt in die eigene Region, heißt ja nicht, dass man alle Verbindungen kappen muss oder sollte. Ich denke, Unternehmen werden in den nächsten Jahren sehr genau hinschauen, ob es sich aus strategischen Gründen lohnt, Produktionsschritte wieder stärker zu integrieren und auch entsprechend zu investieren, oder ob es vielleicht auch ausreicht, sich ein oder zwei zusätzliche Lieferanten in einer anderen Region als Back-up zu suchen. Wir reden ja nicht von einem kompletten Rollback der Globalisierung – sondern von einer globalen Wirtschaftswelt, in der mehrere starke regionale Cluster miteinander interagieren.
Die Fragen stellte Sarah Sommer.