Für Klaus Stemple war früh klar, dass die Corona-Krise auch sein Unternehmen unmittelbar betreffen würde. Denn Deutschlands Pandemie-Fall Nummer eins, der als erster bestätigter Corona-Patient registrierte Mitarbeiter des Automobilzulieferers Webasto, wohnt im bayerischen Kaufering – und damit in direkter Nachbarschaft von Stemples Firma Corpuls, die hier elektromedizinische Geräte für die Notfall- und Intensivmedizin produziert. „Mein Sohn geht in die gleiche Krippe wie die Kinder der betroffenen Familie“, berichtet Stemple. „Hier in Kaufering waren Themen wie Kita- und Schulschließungen, Quarantäneregelungen, Homeoffice und Kontaktbeschränkungen daher schon einige Wochen früher ein Thema als anderswo.“ Die globale Pandemie hatte das oberbayerische Kleinstädtchen und die meist mittelständischen Unternehmen der Region erreicht – eingereist war das Virus mit Mitarbeitern des international vernetzten Automobilzulieferers aus Asien.
Seit Monaten beobachten Menschen weltweit nun schon, wie sich die Pandemie in Wellenbewegungen entlang der globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten ausbreitet, die Länder, Regionen, Unternehmen und Verbraucher wie durch ein dicht gewebtes, komplexes Netz von Versorgungswegen miteinander verbinden. Dabei zeigt der Stresstest durch die Pandemie deutlich, an welchen Knotenpunkten und Verknüpfungen die Schwachstellen dieses weitverzweigten globalisierten Wirtschaftssystems liegen – und wie schnell der gewohnte Fluss von Waren und Menschen, die sich entlang seiner Verbindungen dynamisch rund um den Globus bewegen, zum Erliegen kommen kann.
Globale Lieferketten, die auf Just-in-time-Lieferung hin optimiert und von Geschwindigkeit und Kostendruck geprägt sind, rissen plötzlich an strategisch entscheidenden Stellen ab. Ganze Branchen, nicht zuletzt auch die Elektroindustrie, stellten fest, wie abhängig sie von einzelnen Vorlieferanten in bestimmten Regionen geworden sind – und dass sie im komplexen Geflecht ihrer eigenen internationalen Sub- und Sub-Sub-Lieferanten nicht selten den Überblick verloren haben. Wirtschaftspolitische Kampflinien und Konkurrenzverhalten zwischen den Regionen traten gleichzeitig offener zutage denn je: Die Europäische Union brauchte lange, um sich zusammenzuraufen, eine gemeinsame Krisenbewältigungsstrategie aufzustellen und dafür zu sorgen, dass plötzlich knapp gewordene medizinische Produkte und andere strategisch wichtige Waren nicht national egoistisch gehortet werden. Die handelspolitischen Gräben zwischen China und den USA, Russland und Europa vertiefen sich seit Beginn der Krise zusehends. „Das Bemerkenswerte an diesen Entwicklungen und Problemen ist, dass sie zwar jetzt oft als Pandemie-Folgen diskutiert werden – dass die Corona-Krise sie letztlich aber gar nicht ausgelöst hat“, sagt Bernd Müller-Dauppert. Er ist Experte für Logistik- und Lieferketten-Gestaltung bei der international aufgestellten Beratungsgesellschaft Miebach Supply Chain Engineers. „Die Krise hat lediglich ein Schlaglicht auf globale Trends und Herausforderungen geworfen, die sich schon seit mindestens drei, vier Jahren abzeichnen und zusehends verschärfen.“
Unternehmen mussten in der Ausnahmesituation rasch reagieren
Seit einigen Jahren stellen die Berater bereits fest, dass sich immer mehr Unternehmen fragen, wie sie ihre Produktions- und Lieferketten so umgestalten können, dass sie flexibler und resilienter werden – und besser zu einer Wirtschaftswelt passen, die stärker als bisher von regionalen als von globalen Wertschöpfungs-Netzwerken geprägt ist. „Jetzt ist eine solche regionalisierte Wirtschaftswelt mit wirtschaftspolitischen Clustern, die sich voneinander abgrenzen, allerdings kein Szenario mehr, das sich nur langsam am Horizont abzeichnet. Sondern eines, an das sich Unternehmen recht schnell anpassen müssen.“
Viele Beispiele zeigen, dass sich Unternehmen dieser Herausforderung pragmatisch, flexibel, kreativ und kooperativ stellen. Sie nutzen nach dem ersten Krisen-Schock die Ausnahmesituation als Anlass, um ihre globalen Produktionsketten und Geschäftsmodelle besonnen, aber zügig und gezielt nachhaltiger und resilienter aufzustellen.
Corpuls-Chef Stemple etwa bekam den Druck aus den globalen Wertschöpfungsketten gleich von mehreren Seiten zu spüren: Einerseits stieg die Nachfrage nach den medizinischen Monitoring-Systemen des Unternehmens weltweit an, weil Notdienste und Intensivstationen überall schnell aufrüsten mussten. „Erste Priorität war deshalb, die ohnehin schon hoch ausgelastete Produktion aufrechtzuerhalten und auch die Zusatzaufträge sauber hinzubekommen“, sagt Stemple. „Dabei war uns wichtig, dass wir nicht auf Teufel komm raus so viel produzieren wie irgend möglich, sondern dass auch die Sicherheit der Mitarbeiter jederzeit gewährleistet ist und das Qualitätsmanagement Schritt hält.“
Denn gerade in der Krise galt es für das mittelständische Unternehmen mit 300 Mitarbeitern, zu zeigen: Wir sind ein verlässlicher Lieferant für unsere Kunden auf der ganzen Welt, auch in schwierigen Zeiten. „Als Medizintechnik-Experten hatten wir dabei den Vorteil, dass wir Erfahrung im Umgang mit potenziell kontaminierten Produkten haben“, sagt Stemple. Denn das Unternehmen bietet den Kunden aus der Gesundheitsbranche an, gebrauchte Produkte für Reparatur und Entsorgung zurückzunehmen. Die Hygienebeauftragte des Unternehmens entwarf schnell einen neuen Plan, um die Produktion sicher weiterlaufen zu lassen. Als schwieriger erwies es sich, die Versorgung mit Bauteilen und Komponenten sicherzustellen. „Wir arbeiten, wo wir können, bereits eng mit Lieferanten hier in der Region zusammen“, berichtet Stemple. „Aber es gibt einfach einige elektrotechnische Schlüsselkomponenten, die wir nur bei Lieferanten in Asien bekommen, vor allem aus China.“
Durch die Krise schnellten Lieferzeiten in die Höhe, das Lager in Kaufering leerte sich. Auch Lieferanten mit Sitz im norditalienischen Industriegürtel waren von der Pandemie so stark betroffen, dass kaum noch Bauteile geliefert wurden. Und Lieferanten von OEM-Komponenten in den USA waren zwar zunächst nicht von Lockdowns betroffen, „sie konzentrierten sich aber auf die Belieferung ihrer Kunden im amerikanischen Binnenmarkt, weil das auch politisch so gefordert wurde“, berichtet Stemple. „Als europäisches Unternehmen, vor allem als eher kleines mittelständisches Unternehmen, schaut man da erst mal in die Röhre.“ Mal eben auf alternative Lieferanten ausweichen? Kaum möglich. „Wir sind an strenge Normierungen und Zertifizierungsverfahren gebunden. Tausche ich eine elektronische Komponente aus, muss ich im schlimmsten Falle den gesamten Zulassungsprozess für das Produkt neu durchlaufen.“
Regionale Lieferantenbeziehungen und kurze Wege gewinnen an Bedeutung
Die Einkaufsmitarbeiter von Corpuls telefonierten sich im Homeoffice die Finger wund, um mit den Lieferanten Lösungen zu finden. „Letztlich haben viel Diplomatie und Hartnäckigkeit und unsere über viele Jahre aufgebauten gesunden Lieferantenbeziehungen uns geholfen“, sagt Stemple. Das Unternehmen kam ohne Produktionsstopps durch die Hochphase der ersten Corona-Welle.