Herr Schnettler, Sie haben mal davon gesprochen, dass man das Energiesystem revolutionieren müsse, um die Energiewende zu schaffen. Eine Frage, die da immer wieder diskutiert wird, lautet, ob das Energiesystem der Zukunft zentral oder dezentral sein müsse. Ihre Einschätzung?
Schnettler: Für dezentrale Energiesysteme spricht, dass sie als resilienter gelten, also störungsfreier auch in Krisensituationen laufen. Wenn man genauer hinschaut, zum Beispiel nach Wildpoldsried im Süden Bayerns, dem ersten energieautarken Dorf in Deutschland, muss man leider feststellen, dass solche dezentralen Systeme nicht so leicht umzusetzen sind und zum Beispiel keineswegs so leicht in den Inselbetrieb gehen können.
Matthes: Hier bin ich grenzenlos optimistisch, dass wir dafür technische Lösungen finden würden. Ich halte allerdings trotzdem nichts von dem Narrativ, dass das Energiesystem der Zukunft allein dezentral sein müsste.
Schnettler: Ich auch nicht!
Matthes: Das Energiesystem der Zukunft wird vielmehr sehr viel diverser und integrativer sein, als sich das viele heute vorstellen. Ich beobachte ohnehin, dass die Diskussion hierzulande gerne von Narrativen geleitet wird, die mit der Realität nicht mehr viel zu tun haben. Die Gefahr ist dabei, dass wir dadurch die Zeitpunkte verpassen, an denen wir technische und regulatorische Entwicklungen triggern müssen, um die Transformation zu schaffen.
Schnettler: Da widerspreche ich nicht. Technologisch geht alles, da bin ich prinzipiell ebenfalls sehr optimistisch. Und Sie haben auch recht, wenn Sie davor warnen sehenden Auges – narrativbedingt oder auch einfach nur wegen fehlender Vorgaben – in eine Sackgasse zu laufen. Denn die Technologien, die wir heute entwickeln und in ein Energiesystem integrieren, sind in 20 Jahren ja auch noch da. Deshalb sollten wir uns heute sehr klug und vorausschauend mit den Fragen des Energiesystems der Zukunft beschäftigen: mit Speicherfragen. Mit Fragen der Normung. Mit der Frage der Netzkoordination. All diese Fragen sollten heute dringend angegangen werden, um jetzt die Weichen zu stellen. Da waren wir in der Vergangenheit sicherlich zu langsam.
Herr Matthes, vor gut 12 Jahren sagten Sie mal in einem Interview zum Thema „Energiewende“, die Frage nach der Infrastruktur sei die eigentlich entscheidende. Wurde diese Frage inzwischen befriedigend beantwortet?
Matthes: Die Infrastruktur ist sicher nach wie vor einer der zentralen Flaschenhälse. Wir müssen uns klarwerden, dass wir in eine stromintensive Gesellschaft hineinlaufen. Gleichzeitig haben wir in Deutschland eine Flächenrestriktion, sodass wir nicht grenzenlos Solar- und Windkraftwerke aufbauen können; nach unseren Berechnungen können wir hier nicht mit mehr als rund 800 Terrawattstunden rechnen. Das wird reichen, um den einheimischen Strombedarf 2050 abzudecken, aber eben nur, wenn wir die entsprechende Infrastruktur haben. Bis dahin müssen wir den Netzzubau der bisherigen Planungen ungefähr verdoppeln – und das vor dem Hintergrund, dass der Bau solcher Stromleitungen mindestens 10 bis 15 Jahre dauert.
Schnettler: Im Moment geht es ja zumindest zeitweise etwas voran. Wir sind im Bau der Ultranet-HGÜ (Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung) und auf der 110-kV-Ebene ist auch viel passiert. Aber Fakt ist, mit der Umsetzungsgeschwindigkeit nach dem Netzentwicklungsplan, der alle zwei Jahre aktualisiert wird, hinken wir deutlich hinterher. Wenn uns nicht gelingt, das zu beschleunigen, haben wir ein Problem.
Herr Schnettler, Sie waren 2012 Gutachter des Netzentwicklungsplanes. Damals haben Sie den Umgang mit dem Netzausbau als zu panisch kritisiert, obwohl damals erst 200 der bis 2022 anvisierten 3800 Kilometer neuer Stromtrassen errichtet waren. Im Rückblick: Hätte man nicht noch viel panischer reagieren müssen?
Schnettler: Damals waren wir noch ganz am Anfang der Planung und hatten uns noch mit viel grundlegenderen Themen auseinanderzusetzen. Und: So ganz falsch war die Aussage ja auch nicht. Oder hatten wir seitdem ein Blackout in Deutschland?
Matthes: Aber das ist doch gar nicht die Frage! Bei den Übertragungsnetzen geht es ja nicht um die Versorgungssicherheit. Die Diskussion wurde meiner Ansicht nach eine ganze Weile völlig falsch geführt. Schließlich haben wir ausreichend Instrumente, um die Versorgungssicherheit in Deutschland auch anders zu gewährleisten. Es geht beim Netzausbau um den Transport großer Mengen regenerativen Stroms in die Verbrauchszentren. Und deshalb muss man meiner Ansicht nach schon sehr deutlich sagen, dass der Ausbau der Stromtrassen immer noch zu langsam vorangeht.
Schnettler: Wir müssen nur zum Ausdruck bringen, dass Panik sicherlich kein guter Ratgeber ist und wir das technologisch schon hinbekommen werden. Und man muss auch konstatieren, dass sich der Netzentwicklungsplan in den vergangenen 8 Jahren qualitativ deutlich verbessert hat.
Welche Hürden sehen Sie denn noch – über die Frage der Infrastruktur hinaus?
Matthes: Ein weiteres Problem ist sicherlich, dass man sich hierzulande gerne die Schuld gegenseitig zuweist, wer dafür verantwortlich ist, dass die Energiewende nicht vorankommt. Wir haben eine teilweise bizarre Diskussion zwischen Übertragungs- und Verteilnetzbetreibern und andere bringen dann, ebenso bizarr, Wasserstoff gegen den Leitungsausbau und die Windstromerzeugung in Stellung. Wir müssen hier unbedingt dafür sorgen, dass es auf allen Baustellen zu kontinuierlichen Fortschritten kommt.
Schnettler: Und wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie so ein hochkomplexes und koordinationsintensives Energiesystem sicher gesteuert werden kann. Und da sehe ich auch uns – den VDE – in der Pflicht, den Finger in die Wunde zu legen, Lösungsoptionen aufzuzeigen und diese dann voranzutreiben.
Matthes: Richtig. Dieses Thema und die damit verbundene Dramatik haben viele noch gar nicht auf der Agenda. Wir haben in Deutschland ein hundert Jahre altes Stromsystem, das mal aus 300 Kraftwerksblöcken bestand. Heute haben wir zwei Millionen und in Zukunft werden wir wahrscheinlich zwischen 10 und 20 Millionen Systemteilnehmer haben, die alle koordiniert werden müssen und die alle investieren müssen.
Und dann haben wir noch das Problem der Stromspeicher, ohne die die Energiewende nicht auskommt.
Matthes: Das sehe ich entspannt. Tatsache ist doch, dass wir derzeit extrem günstige Pumpspeicherkraftwerke haben, die überwiegend wirtschaftlich notleidend sind. Das heißt, zumindest heute ist der Stromspeicherbedarf noch gar nicht da und das Argument, nicht mit der Energiewende weitermachen zu können, weil es an Speichern fehlt, ist eindeutig vorgeschoben; wieder so ein ungutes Narrativ! Natürlich wird der Speicherbedarf in den nächsten Jahrzehnten steigen. Darauf müssen wir zum richtigen Zeitpunkt reagieren und Anreize so setzen, dass die zukünftig benötigten Speicher rechtzeitig da sind.
„Jede Technologie braucht den richtigen Zeitpunkt“, sagten auch Sie, Herr Schnettler einmal. Und deshalb waren Sie beim Thema Wasserstoff noch vor wenigen Jahren eher skeptisch. Was hat Sie zum Umdenken gebracht?
Schnettler: Der Satz gilt immer noch, denn auch zu früh kann unpünktlich sein. Und auch wenn ich bei Siemens Energy für dieses Thema zuständig bin, warne ich auch vor dem Wasserstoff-Hype, den es übrigens weltweit gibt. Wenn Sie mal schauen, welche der angekündigten Gigawattprojekte tatsächlich umgesetzt wurden oder kurz vor der Umsetzung sind, ist das leider eher frustrierend. Von daher muss man als Technologiekonzern natürlich auch aufpassen, nicht zu früh mit einer Lösung am Markt zu sein. Wir hoffen jetzt natürlich, dass mit der EU-Erneuerbare-Energien-Richtlinie (RED II) und der Akzeptanz von grünen Technologien neue Märkte geschaffen werden und damit dann auch letztlich die Zahlungsbereitschaft steigt. Fakt ist aber, solange das nicht umgesetzt ist, tut man sich schwer, solche Investitionen zu tätigen.
Matthes: Ich war auch jahrelang ein bekennender Wasserstoff-Skeptiker, nicht zuletzt, weil ich Erdgas im Kontext einer Emissionsminderung um 80 Prozent für die sinnvollere Option gehalten habe. Wir haben aber jetzt das Ziel von Klimaneutralität bis spätestens 2050 und da ist für einen fossilen Energieträger wie Erdgas, auch wenn er relativ emissionsarm ist, kein Platz mehr.
Schnettler: Maximal die Hälfte des Weltenergieverbrauchs kann elektrifiziert werden und unsere Hoffnung ist, dass die andere Hälfte über grünen Wasserstoff abgedeckt werden kann. Deshalb ist jetzt die Zeit reif, sich mit dem Thema zu beschäftigen und Deutschland tut gut daran, in diese Wirtschaft zu investieren. Auch, damit diese Technologie auch im Land bleibt! Aber ich bleibe dabei: Im Moment sind es im Wesentlichen Ankündigungen und wir befinden uns noch absolut in der Anfangsphase.
Skeptiker sehen vor allen Dingen die hohen Kosten der Technologie.
Schnettler: Völlig zu Recht. Sie brauchen ungefähr 50 Kilowattstunden Strom, um einen Kilogramm Wasserstoff herzustellen. Bei 4 Cent pro Kilowattstunde sind das schon 2 Euro – und da sind die Investitions- und die Betriebskosten noch nicht einmal mit drin. Diesen Preis müssen wir unbedingt auf 1,50 Euro – inklusive aller Kosten – drücken, um konkurrenzfähig zu werden.
Matthes: Und diese Zahlen sagen sich so einfach hin. Aber auch 1,50 Euro pro Kilogramm sind noch 45 Euro je Megawattstunde unterer Heizwert. Zum Vergleich: bei Erdgas sind es zurzeit 5 Euro und mittelfristig vielleicht wieder 20. Das heißt, wir reden über einen wichtigen Energieträger, der aber ziemlich teuer ist und das auch langfristig bleibt. Konkurrenzfähig kann der Wasserstoff erst dann werden, wenn wir neben sehr deutlichen Kostensenkungen auch sehr hohe CO2-Preise haben. Aber wie gesagt: Wenn Erdgas keine Option mehr ist, brauchen wir Wasserstoff in großen Mengen. Deshalb finde ich die Wasserstoffstrategien Deutschlands und der EU auch so wichtig, weil es jetzt darum geht, Märkte zu schaffen und die Kosten zu drücken.
Welche Märkte sehen Sie denn?
Schnettler: Es wird sicherlich mit Mobilität anfangen, auch mit synthetischen Kraftstoffen. Dann das Thema Industrie. Und als letztes wahrscheinlich die Re-Verstromung, also Power-to-Gas-to-Power. Die wird sicherlich noch zehn Jahre dauern, bis es da ein Business-Case geben wird.
Matthes: Nach unserer Analyse wird der erste Anwendungsfall für Wasserstoff – gerade international – eher keine Energieanwendung, sondern die Ammoniakherstellung sein. Und darüber hinaus bin ich sehr dafür, das Thema von hinten anzugehen und sich zu überlegen, an welchen Stellen wir gar keine Alternativen haben. Das sind zum Beispiel die Stahl- und die Chemieindustrie. Da werden wir auf jeden Fall Wasserstoff benötigen, um klimaneutral zu werden. Auch Teile des Transportsektors werden wir nicht anders lösen können: Flugzeuge, Schiffe, Lkw im Langstreckenverkehr – aber definitiv nicht Pkw.
Schnettler: D’accord. Schon alleine, weil sich so kleine Wasserstofftankstellen mit vielleicht 20 Kilogramm / Stunde gar nicht rechnen. Auch bei der Vorstellung, sich selbst einen kleinen Elektrolyseur in den Keller zu stellen und ihn mit Strom aus der heimischen PV-Anlage zu speisen, bin ich skeptisch. Dafür sind die Investitionskosten viel zu hoch, das wird sich nicht rechnen. Erst Größenordnungen ab 200 bis 300 Kilogramm pro Stunde sind meines Erachtens interessant.
Dann also eher so eine große Gigawattanlage, von der jetzt so oft die Rede ist?
Schnettler: Ganz ehrlich: Auch die sehe ich in Deutschland nicht. Hierzulande sehe ich eher 100 bis maximal 500 Megawattanlagen für Industrie und Stahlwerke. Allerdings muss man auch sagen, dass es heute keinen Hersteller gibt, der auch diese Anlagen kurzfristig zur Verfügung stellen kann. Deshalb ist es ja auch so wichtig, dass die vom Bundeswirtschaftsministerium ins Spiel gebrachten Reallabore nun endlich umgesetzt werden, damit diese Skalierung auf große Anlage auch ordentlich getestet werden kann.
Wo soll der Strom herkommen – wenn Herr Matthes doch zurecht darauf hinweist, dass die heimischen Flächen nur ausreichen, um den „normalen“ Strombedarf zu decken?
Schnettler: Gute Frage. Das geht aktuell nur über spezielle Stromlieferverträge, sogenannte Power-Purchase-Agreements – wobei wir natürlich auch nicht wollen, dass der grüne Strom an anderer Stelle fehlt.
Matthes: Ich finde, wir müssen an dieser Stelle ehrlich sein und uns eingestehen, dass das Potenzial an inländisch produziertem grünen Wasserstoff sehr begrenzt ist, meiner Ansicht nach bei maximal 10 oder 20 Prozent. Allein aus Kostengründen kann ich mir sie nur bei Offshore-Windanlagen vorstellen, weil wir da die Möglichkeiten haben, große Elektrolyseanlagen mit relativ günstigem regenerativem Strom zu versorgen und mit hohen Auslastungen zu betreiben. Das heißt, viel relevanter wird für uns die Produktion im Ausland sein, wo regenerativer Strom günstig produziert und Elektrolyseanlagen besser ausgelastet werden können.
Schnettler: Da will ich gar nicht widersprechen. Schon alleine, weil es immer effizienter und sinnvoller ist, Grünstrom, den wir in Deutschland erzeugen, auch direkt zu nutzen. Aber was man auch bedenken muss: Wasserstoff ist schwierig und teuer zu transportieren. Natürlich lässt sich beispielsweise in Chile Wasserstoff mit Windkraft extrem günstig produzieren. Transportiert werden dann aber eher Derivate, zum Beispiel Methanol oder Ammoniak.
Matthes: Sie haben recht, der Transport ist ein häufig übersehener Kostenfaktor und auch hier brauchen wir massive Fortschritte. Ich habe mir deshalb letztes Jahr – als man noch reisen konnte – mal die Mühe gemacht und habe viele potenzielle Lieferanten-Länder bereist. Und da muss man ganz klar sagen: Der Zielmarkt von Australien ist Asien und der von Chile, Argentinien und Brasilien ist Nordamerika. Wir in Europa haben eigentlich nur die Möglichkeit, grünen Wasserstoff aus Spanien und Norwegen zu beziehen und sind darüber hinaus mit dem Nahen Osten und Nordafrika an eine Region gekettet, die ich mal als Low-Governance-World bezeichnen möchte. Das heißt, wir haben an dieser Stelle nicht nur ein technisches und ökonomisches, sondern auch ein außenpolitisches Problem.
Da haben wir jetzt einige kritische Punkte angesprochen. Vielleicht am Ende noch etwas „Alles wird gut“?
Schnettler: Zuversichtlich stimmt mich, dass auch die Wasserstoff-Technologie – wie auch bei Wind oder Solar – immer leistungsfähiger und damit günstiger wird. Im Moment ist es so, dass sich die Leistungen unserer Anlagen alle vier bis fünf Jahre verzehnfachen. Das ist quasi das Moore’sche Gesetz der Wasserstoff-Elektrolyse.
Matthes: Wir müssen sicher die Baustellen Erzeugung, Transport und Infrastruktur sowie Anwendungsbereiche gleichzeitig angehen, bevor der grüne Wasserstoff zum Erfolgsmodell werden kann. Und auch die Herstellung von blauem oder türkisem Wasserstoff aus Erdgas und mit Kohlenstoffentsorgung wird nicht ganz ausgeblendet werden können. Wir müssen uns damit anfreunden, dass die Erzeugung des Wasserstoffs weitgehend andernorts geschieht und wir hier „nur“ der Leitmarkt für die Technologieentwicklung und das Herunterkaufen der Technologiekosten sein werden. Aber wer diesen Weg nicht mitgehen will, muss erklären, wie Klimaneutralität anders erreicht werden kann.
Herr Schnettler, auch im VDE müssen Sie für diesen Weg wahrscheinlich noch werben – schließlich steht der VDE bislang nicht unbedingt für Wasserstoff.
Schnettler: Der VDE ist natürlich kein Wasserstoffverband und soll es auch nicht werden. Aber das E im VDE kann ja künftig zumindest ein bisschen mehr auch für Elektrochemie und Elektrolyse und damit auch für Energiewende stehen. Natürlich gibt es hier Themenbereiche, die eher in die Verfahrenstechnik gehören und auch nicht den Kern des VDE darstellen. Gerade zum Beispiel bei der Frage, wie Wasserstoffanlagen in ein Netz integriert werden müssen, sehe ich aber zum Beispiel wichtige Aufgaben für die Normung und Standardisierung. Niemand muss jedoch Sorge haben, dass wir hier einfach nur auf einen Hype aufspringen.
MARTIN SCHMITZ-KUHL ist freier Autor aus Frankfurt am Main und Redakteur beim VDE dialog.