Thermometer

Verkaufshit Thermometer

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30.09.2020 Publikation

Elektroindustrie: Verkaufshit Thermometer

Die Elektroindustrie wurde auf beiden Seiten des Atlantiks hart von der Corona-Pandemie getroffen. Jetzt stehen die Zeichen auf Erholung – solange die USA die erneute Ausbreitung des Virus in den Griff bekommen. Die Auswirkungen waren indes nicht für alle gleich: Einzelne Segmente der Branche erfreuten sich schon während der Krise einer hohen Nachfrage.

von NORBERT KULS

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Joy Galberth ist stolz auf ihr neues Büro. Sie hat zwei große Bildschirme, einen leistungsstarken Desktop und eine schnelle Internetverbindung. Eigentlich alles ganz normal. Die einzige Besonderheit: Die Bildschirme stehen in ihrem Wohnzimmer in Burke im Norden des Bundesstaats Virginia, einem Vorort der amerikanischen Hauptstadt Washington. Homeoffice war für die frühere Krankenschwester, die jetzt Managerin bei einem großen Krankenhausverbund ist, kürzlich noch ein Fremdwort. Aber seit sich die Corona-­Pandemie global ausbreitet, ist mit der täglichen Autofahrt an ihren früheren Arbeitsplatz Schluss.

Vier Autostunden nördlich sitzt auch ihr 14-jähriger Neffe in New York zu Hause vor einem neuen Bildschirm. Es sind Ferien und über den Schirm flimmern jetzt vor allem Videospiele. Bis zum Ende des Schuljahres liefen darauf noch Klassen für Englisch und Geschichte – wegen der Pandemie und der geschlossenen Schule auf Zoom. Einen Drucker hat Galberths Neffe seit Kurzem auch.

Für den Ökonomen Shawn DuBravac ist das eine typische Entwicklung der vergangenen Monate. „Laptops, Webkameras, Computermonitore, also Geräte, mit denen man das Homeoffice ausstatten muss, wurden stark nachgefragt. Das gilt auch für Drucker, auch wenn sich der Trend eigentlich davon wegbewegt. Aber wenn Leute auf einmal ihre Kinder zu Hause unterrichten müssen, drucken sie schon mal Sachen von der Schule aus.“ ­DuBravac beachtet diese Trends so genau, weil er Chef­ökonom des IPC ist, der amerikanische Verband der Elektronik­industrie.

Trotz dieser Erfolgsgeschichten bei der Nachfrage nach Verbraucherelektronik wurde die amerikanische Elektro­branche von der Ausbreitung des Coronavirus und des darauf folgenden Wirtschaftsabschwungs dennoch hart getroffen – allerdings nicht ganz so schlimm wie andere Wirtschaftszweige. Kein Industriezweig konnte sich von den dramatischen wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Pandemie abkoppeln. „Die Pandemie hat sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit in alle Teile der Welt ausgebreitet“, konstatierten die Volkswirte der Weltbank im Juni. Angesichts schrumpfender Volks­wirtschaften in Industrie­ländern, sehr niedrigem Wachstum in China und heftigem Gegenwind in den Entwicklungsländern rechnet die Weltbank für 2020 mit einem im Vergleich zum Vorjahr um 5,2 Prozent nachlassenden Weltwirtschaftswachstum.

In alarmierendem Tempo zur tiefsten globalen Rezession

Regierungen hatten eine Reihe von Maßnahmen zur Eindämmung ergriffen, Schulen und nicht lebensnotwendige Geschäfte wurden geschlossen, Reisen eingeschränkt. Diese Maßnahmen haben Konsum und Investitionen stark gedrosselt. Die Arbeitslosigkeit kletterte und es kam zu Verwerfungen an Finanz- und Rohstoffmärkten sowie zu Unterbrechungen im weltweiten Handel und bei Lieferketten. Die Pandemie habe in „alarmierendem Tempo“ zur tiefsten globalen Rezession seit dem zweiten Weltkrieg geführt, hieß es bei der Weltbank. Notenbanken haben rasch die Leitzinsen gesenkt und kaufen in bisher unbekanntem Ausmaß Staatsanleihen und Unternehmenspapiere, um die langfristigen Zinsen niedrig zu halten. Regierungen verabschiedeten Konjunkturprogramme, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu mildern. In den USA gab es zusätzliches Arbeitslosengeld und Hilfskredite für mittelständische Unternehmen. Davon profitierte auch die Elektronikindustrie. Trotzdem: Als die Aufträge im März und April austrockneten, mussten viele Hersteller ihre Mitarbeiter in den Zwangsurlaub schicken. Fast drei Viertel der Elektroproduzenten hatten nach einer Umfrage des Branchenverbandes IPC Kredite unter dem sogenannten Payroll Protection Program beantragt, um weiterhin Löhne zahlen zu können. In Deutschland gab es Kurzarbeit.

In den Vereinigten Staaten standen die Produzenten im April vor einer ganzen Reihe von Herausforderungen, darunter unklare oder veränderte Betriebsbedingungen, Änderungen bei den Lieferketten und verunsicherte Mitarbeiter. Die größte Sorge war nach der IPC-Umfrage aber eine nachlassende Nachfrage. Dennoch: Wie im Verbrauchersegment gab es auch bei Industriegütern Bereiche, die von der Pandemie profitierten. „Die Medizintechnik gehörte ganz zu Anfang der Pandemie zu den Gewinnern, weil die Nachfrage mit steigender Zahl von Krankenhausaufenthalten stieg“, sagt Ökonom DuBravac. Infrarot-Thermometer, die schnell Fieber als potenzielles Anzeichen für eine Virusinfektion erkennen, wurden plötzlich zum gefragten Produkt. Wegen der Reiseeinschränkungen allerdings hart traf es Elektrozulieferer der Luftfahrtbranche. Auch Unternehmen, die an Autohersteller liefern, deren Fabriken zeitweilig stillgelegt waren, meldeten Umsatzeinbußen.

Insgesamt blieb die Elektronikbranche innerhalb des verarbeitenden Gewerbes in den USA aber relativ robust. „Es gab im April einen Rückschlag, aber das war nichts im Vergleich zur Automobilindustrie“, sagt DuBravac. Alle Branchen haben sich inzwischen wieder von den Rückschlägen erholt, aber noch nicht wieder das Vorkrisen­niveau erreicht. Die Kapazitätsauslastung der Autoindus­trie lag im Juni noch um rund ein Viertel unter dem Niveau vor Ausbruch der Pandemie. Die Kapazitätsauslastung für Hersteller von Computern und elektronischen Produkten lag zuletzt aber schon wieder bei 71 Prozent und damit nur noch 4 Prozentpunkte unter Vorkrisenniveau. Die Branche hat sich also nahezu vollständig erholt. Im Juni waren auch rund ein Drittel der im April und Mai verloren gegangenen Stellen wieder neu besetzt. Eine große Anzahl US-Elektro­nik­produzenten liefern an Industriekonzerne und Rüstungsunternehmen. „Diese Branchen gelten im Gegensatz zur Autoindustrie als essenziell und haben ihren Betrieb weitgehend aufrechterhalten, auch wenn sich die Produktion wegen der Infektionsschutzmaßnahmen verändert hatte“, sagt DuBravac.

»Laptops, Webkameras, Computermonitore, also Geräte, mit denen man das Homeoffice ausstatten muss, wurden stark nachgefragt. Das gilt auch für Drucker, auch wenn sich der Trend eigentlich davon wegbewegt.«

Shawn DuBravac, Ökonom

Die verschiedenen Regionen der Welt wurden zeitlich gestaffelt von der Pandemie getroffen. Auf China folgten Europa und schließlich die USA. „Für 2020 liegt das Schlimmste hinter uns“, glaubt DuBravac. Die Arbeitslosenquote ist mit zuletzt 11 Prozent jedoch weiterhin hoch. Und: Die Erholung ist mit Fragezeichen behaftet, weil sich das Virus in den Vereinigten Staaten wieder auszubreiten scheint. Das könnte wieder zu einem Lockdown der Wirtschaft führen und die wegen des generell schwachen wirtschaftlichen Umfelds zurückhaltenden Unternehmen weiter verunsichern. Die Elektronikbranche ist in Gefahr, weil die Infektionen zuletzt in Bundesstaaten wie Kalifornien und Texas – Zentren der amerikanischen Elektronikindustrie – wieder zunahmen.

Das Stimmungsbarometer steht auf Entspannung

Geschäftsfrau nimmt mit Webcam an einem Meeting teil
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„Erholung ist ein Vertrauensspiel“, sagt Thomas Barkin, der Präsident der regionalen Notenbank von Richmond in Virginia. Das gilt in Amerika genauso wie in Deutschland, wo die Corona-Krise die Elektrobranche auch stark in Mitleidenschaft gezogen hatte. Im April und Mai waren die Gesamtumsätze der deutschen Elektroindustrie jeweils prozentual zweistellig eingebrochen. Nach der Lockerung von Infektionsschutzmaßnahmen scheint sich die Lage nun etwas zu entspannen. „Die Stimmungsindikatoren für Juni lassen hoffen, dass wir die Talsohle durchschritten haben könnten“, sagt Gunther Kegel, der Präsident des ZVEI, des deutschen Zentralverbandes Elektrotechnik- und Elektro­nik­industrie und stellvertretender Präsident des VDE. Erste Zeichen der Erholung gebe es sowohl bei den Produktionsplänen als auch beim allgemeinen Geschäftsklima. Im Juni hat sich zudem der Anstieg von Anzeigen auf Kurzarbeit weiter merklich abgeflacht, hieß es im Juli-Konjunkturbarometer des ZVEI.

Auch im Außenhandel der stark exportorientierten Branche gibt es einen Lichtblick. Die Nachfrage aus China hatte sich zuletzt spürbar verbessert, wobei die Exporte in die Vereinigten Staaten deutlich zurückgegangen waren. China und die USA sind sowohl die größten Abnehmerländer als auch die größten Lieferanten von elektrotechnischen und elektronischen Erzeugnissen nach Deutschland. Nach einer jüngsten Umfrage der Unternehmensberatung McKinsey unter Managern hat sich deren Zuversicht auf eine Erholung der Wirtschaft in Nordamerika zuletzt wieder verschlechtert. Nur weniger als die Hälfte der Befragten war optimistisch. Für Europa blieben die Erwartungen konstant. Nur in China, wo das Virus eingedämmt scheint, hat sich die Stimmung unter den Befragten deutlich aufgehellt. Anfänglich bestand in der Elektroindustrie auch die Sorge, dass es bei Lieferungen aus China, wo das Virus zuerst ausbrach, zu einer längeren Knappheit von Komponenten kommen könnte. „Aber China hat nach nur zwei Wochen wieder mit der Produktion begonnen und deswegen kam es nicht zu ausgeprägter Verknappung“, sagt DuBravac. Als die Lieferketten aus China zu brechen drohten, stieg in Amerika umgehend die Nachfrage nach Leiterplatten aus heimischer Produktion. „Das wurde von Leuten getrieben, die sich das Produkt außerhalb Asiens beschaffen wollten“, beobachtet der Ökonom.

Es gilt, Lieferketten vor politischen oder ökonomischen Verwerfungen zu schützen

Die kurzzeitige Unterbrechung der Lieferketten aus China hat auch vor dem Hintergrund des seit 2018 schwelenden Handelskonflikts zwischen den USA und China zu einem Umdenken in der amerikanischen Branche geführt. China wird als Quelle essenzieller Grundstoffe und Komponenten infrage gestellt, um die Lieferketten vor politischen oder ökonomischen Verwerfungen zu schützen. Unternehmen haben bereits flexibel auf das China-Problem reagiert und die Beschaffung von Komponenten in Länder wie Vietnam verlagert. Es ist Teil eines Trends, den Ökonomen „Regionalisierung“ nennen (siehe auch Beitrag auf S. 26 ff). Produzenten wie Foxconn aus Taiwan, der für den Elektro­nik­riesen Apple iPhones baut, und rund 20 weitere Unternehmen investieren aus diesem Grund jetzt 1,5 Milliarden Dollar in den Bau von Fabriken in Indien.

Im amerikanischen Kongress wurde im Juni ein parteiübergreifender Gesetzesvorschlag eingereicht, der mit staatlichen Anreizen die Produktion von Halbleitern in Amerika fördern soll. „Da die Weltwirtschaft immer stärker vernetzt ist, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die USA die Fähigkeit bewahren, die Hardware zu produzieren, von der unsere Hightech-Wirtschaft abhängt“, sagt die demokratische Kongressabgeordnete Doris Matsui aus Kalifornien. „Damit die USA an der Spitze dieser strategisch wichtigen Industrie bleiben können, müssen wir sicherstellen, dass wir von der Forschung und Entwicklung bis hin zum Fließband führend sind.“ Der Name des Gesetzesentwurfs: CHIPS for America.

Gesundheitsmanagerin Galberth macht sich in ihrem Homeoffice darüber keine Gedanken. Ihr ist vor allem wichtig, dass es bald einen Impfstoff gegen das Virus geben wird. Das würde auch die wirtschaftlichen Unwägbarkeiten ein für alle Mal beseitigen. In ihr altes Büro will sie aber trotzdem nicht zurück, zumindest nicht jeden Tag. Mit den beiden großen Bildschirmen und dem schnellen Rechner funktioniert die Kommunikation auch von zu Hause gut – und zudem kann sie zur Mittagspause in den Garten.

NORBERT KULS ist freier Wirtschaftskorrespondent in New York und schreibt für die Börsen-Zeitung.

Ende der Schockstarre

Nach dem Schock der Corona-­Krise lebt der deutsche Markt für Risikokapital (VC) wieder auf. Im zweiten Quartal 2020 machte der deutsche VC-Geschäftsklimaindikator mehr als die Hälfte des Corona-Einbruchs wieder wett, notiert allerdings weiter im negativen Bereich. „Es gibt eine spürbare Erleichterung, dass die Krise viele Start-ups wohl weniger hart trifft als erwartet“, sagte Friederike Köhler-Geib, Chefvolkswirtin der staatlichen Förderbank KfW, die das Stimmungsbarometer vierteljährlich mit dem BVK, dem Verband deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften erstellt. Die Einstiegsbewertungen für junge Unternehmen würden als günstiger wahrgenommen als vor der Krise. Köhler-Geib: „Es könnte eine neue Investitionsdynamik in Gang kommen.“

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19.04.2023 TOP

Der VDE wirkt an der Nahtstelle zwischen Technologien, IT und Anwendung. Er führt bei Themen wie zuverlässige drahtlose Kommunikation, Robotik und autonome Systeme sowie IT-Sicherheit vernetzter System führende Experten und Anwender zusammen und verbreitert deren Wissensbasis. VDE|DKE engagiert sich aktiv in der Plattform Industrie 4.0. Mit der Deutschen Normungs-Roadmap hat sie einen wichtige Grundlage gelegt und das „Standardization Council Industrie 4.0“ gegründet.

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