Wer ein schulpflichtiges Kind zu Hause hat, konnte in den vergangenen Monaten live miterleben, wie es um die Digitalisierung im deutschen Bildungssystem bestellt ist. Die allgemeinbildenden Schulen waren quasi von heute auf morgen gezwungen, ihre Schüler ins Homeschooling zu schicken. Die individuellen Erfahrungen, welche die Eltern dabei bundesweit machten und noch machen, sind extrem unterschiedlich. Es gibt Klassen, in denen Schülerpräsentationen und Elternabende per Webkonferenz gehalten werden. Chemielehrer nehmen ihre Versuche auf Video auf und verteilen sie anschließend über Lernplattformen. Aber es gibt auch Kinder, die ihre Hausaufgaben in Tütchen im Briefkasten finden.
Das bestätigt auch der Bildungsbericht 2020, den eine Autorengruppe unter Federführung des DIPF - Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation erstellt hat. Auftraggeber waren die Kultusministerkonferenz sowie das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Laut diesem Bericht wurde mit der Corona-Pandemie die große Bandbreite des Entwicklungsstandes von Bildungseinrichtungen offenkundig. „Während einige Schulen bereits sehr erfolgreich digitale Technologien in den Schulalltag integriert haben und damit Unterrichtsausfälle kompensieren konnten, war dies in anderen Einrichtungen kaum oder nur schwer möglich.“
Der Bildungsbericht zeigt auch: Tütchen im Briefkasten sind wohl keine Seltenheit. Insgesamt stellt der Bericht dem Bildungssystem in Sachen Digitalisierung kein gutes Zeugnis aus. Wer ihn sich anschaut, liest immer wieder, dass Deutschland hinterherhinkt – und zwar in vielen Bereichen. Beispiel technische Infrastruktur: Diese sei im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich. Bei einer Anfang 2020 durchgeführten Befragung etwa hätten zwei Drittel der Grundschulleitungen angegeben, dass in ihrer Schule weder Klassensätze an mobilen Endgeräten noch ein Zugang zum Breitbandinternet beziehungsweise WLAN in allen Klassenräumen verfügbar sind, heißt es im Bericht.
Hausaufgabenzustellung ganz analog: im Briefkasten an der Tür
Als Land, in dem es deutlich besser läuft, wird häufig Dänemark genannt. An den Vorsprung der Skandinavier in Sachen Bildung hat man sich ja mittlerweile fast schon gewöhnt. Doch es sind nicht nur die nordischen Länder, welche in der Digitalisierung die Nase vorn haben. Mitte Juni veröffentlichte das Institut für Bildungsmanagement und Bildungsökonomie der Pädagogischen Hochschule Zug eine Studie, welche die Auswirkungen von Corona auf die Schulen in der Schweiz, Deutschland und Österreich untersuchte. An der Onlinebefragung nahmen über 7100 Schulleitungen, Lehrpersonen, Eltern, Schülerinnen und Schüler sowie weitere Akteure aus dem Bildungswesen teil. Die Ergebnisse sind niederschmetternd – für das Geburtsland von Konrad Zuse und dem Land der Dichter und Denker. So gaben 63 Prozent der befragten Mitarbeitenden der Schulen in Österreich und 57 Prozent der Schweizer an, dass sie ihre Schüler über Online-Lern- und Arbeits-Plattformen erreichen. In Deutschland waren dies nur 36 Prozent. Die Präsenzzeiten, welche die deutschen Schulmitarbeiter mit ihren Schülern vereinbart hatten, sind sehr überschaubar. Sie lagen bei der Hälfte der Befragten nämlich bei genau null Stunden pro Woche. In Österreich und der Schweiz war dies nur bei etwa einem Drittel (30 beziehungsweise 33 Prozent) der Fall. Außerdem stehen laut Studie in Deutschland deutlich weniger Ressourcen und technische Kapazitäten für digitales Lehren bereit als in der Schweiz und in Österreich.
Zumindest das Problem der mangelnden technischen Ausstattung sollte eigentlich der Digitalpakt Schule lösen, der im Mai 2019 beschlossen wurde. In diesem stellt der Bund bis 2024 insgesamt fünf Milliarden Euro bereit, um die Schulen mit digitaler Technik zu versorgen. Das Geld soll zum Beispiel in WLAN-Verbindungen und mobile Endgeräte für Schüler gesteckt werden. Doch laut Martina Schmerr ist der Digitalpakt „total unterfinanziert“. Schmerr ist Referentin im Vorstandsbereich Schule bei der Bildungsgewerkschaft GEW. Berechnungen der GEW haben ergeben, dass der Finanzbedarf bei den allgemeinbildenden Schulen deutlich größer ist. „Allein wenn Tablets in ausreichendem Maß in den Schulen vorhanden sein sollen, bräuchte man 20 Milliarden Euro mehr“, so Schmerr.