Eine große orangefarbene Siliziumwafer-Scheibe

Diese Silizium-Wafer – hauchdünne Scheiben, auf denen Mikrochips gefertigt werden – sind gerade einmal 20 Mikrometer dick. Das entspricht etwa einem Viertel der Stärke eines menschlichen Haares.

| Infineon Technologies AG
02.09.2025 VDE dialog

Hidden Electronics: Aber oho!

Kleine Chips, große Wirkung. Doch Europa droht den Anschluss in der Mikroelektronik zu verlieren. Ein neues VDE Positionspapier zeigt Versäumnisse auf und fordert strategisches Handeln mit klarer Zielrichtung.

Von Martin Schmitz-Kuhl

Sie ist überall und bleibt dennoch meist im Verborgenen – Mikroelektronik bildet das Rückgrat der Digitalisierung, treibt Automatisierung, künstliche Intelligenz und moderne Industrieproduktion an. Ohne Chips fährt kein Auto, fliegt kein Flugzeug, kommuniziert kein Satellit. Mikroelektronik steckt tief im Inneren von Geräten, Maschinen und Systemen. Doch sichtbar wird sie oft erst, wenn sie fehlt, etwa in Form leerer Produktionslinien, unterbrochener Lieferketten oder ausverkaufter Produkte. Der VDE fasst dieses Phänomen seit Jahren unter dem Begriff „Hidden Electronics“ zusammen, als Symbol für die weitgehend unsichtbare, aber unverzichtbare Rolle der Mikroelektronik in unserer Wirtschaft und Gesellschaft.

Deren strategische Bedeutung sichtbar zu machen, ist auch das Ziel einer Positionspapier-Reihe, die der VDE gemeinsam mit seinen für Mikroelektronik und Informationstechnik zuständigen Fachgesellschaften, GMM und ITG, ins Leben gerufen hat. Im Jahr 2014 erschien mit „Hidden Electronics“ das erste dieser Papiere. „Es war ein Weckruf an Politik und Wirtschaft, die Mikroelektronik als Schlüsseltechnologie zu begreifen“, erinnert sich GMM-Geschäftsführer Dr. Ronald Schnabel. Das Papier habe bereits zu einem frühen Zeitpunkt betont, dass sich ohne eigene Kompetenzen in Entwurf, Fertigung und Anwendung mikroelektronischer Systeme keine nachhaltige Innovationsfähigkeit entwickeln lasse. Und es forderte auch schon damals gezielte Investitionen und staatliche Förderung.

2020 folgte „Hidden Electronics II“ mit einer Bestandsaufnahme der Lage in Europa. Es stellte fest: Europa hat den Anschluss an die Weltspitze in der Logik- und Speicherfertigung verloren, während es in Asien und den USA massive industriepolitische Programme gibt. In seiner Analyse forderte das Papier eine europäische Technologiestrategie sowie den Ausbau eigener Fertigungskapazitäten, um technologische Abhängigkeiten zu reduzieren. Das bereits ein Jahr später veröffentlichte „Hidden Electronics III“ schließlich konkretisierte die Forderungen und wurde deutlicher: Es benannte zentrale Anwendungsfelder wie Vehicle Computing, Edge Computing und Open-Source-Hardware, etwa auf Basis der RISC-V-Architektur. Es ging um ein gezieltes industriepolitisches Handeln. Und es ging um einen europäischen Masterplan für Mikroelektronik.

Blick auf Infineons Halbeiterfabrik in Dresden

Dresden ist heute Europas größter Halbleiterstandort. Seit Siemens 1996 die erste Chipfabrik errichtete, haben sich hier Unternehmen wie Bosch, Infineon und GlobalFoundries angesiedelt. Über 30.000 Jobs sind im „Silicon Saxony“ direkt durch Mikroelektronik entstanden.

| Infineon Technologies AG

„Doch einen solchen Masterplan gibt es bis heute nicht“, bedauert Schnabel. Zwar wurde im September 2023 der „European Chips Act“ verabschiedet, das bislang ambitionierteste Förderprogramm der EU für die Halbleiterindustrie mit dem Ziel, Europas Anteil an der globalen Chipproduktion bis 2030 auf 20 Prozent zu verdoppeln. Doch im Vergleich zu den Programmen in den USA und China fehlt dem EU-Chip-Gesetz die zentrale Steuerung, die finanzielle Schlagkraft und die Geschwindigkeit der Umsetzung. Während Washington und Peking ihre nationalen Programme mit klaren Zielvorgaben und massiven Mitteln durchsetzen, setzt Europa auf die Koordination vieler Akteure. „Ein mühsamer Weg in einem Markt, der längst von geopolitischen Interessen dominiert wird“, so Schnabel.

Vor diesem Hintergrund ist auch das jüngste Papier mit dem Titel „Hidden Electronics IV“ zu verstehen, das am 2. September auf dem Jahresempfang des VDE in Brüssel präsentiert wurde. Es analysiert nicht nur die aktuelle Lage der europäischen Mikroelektronik und ordnet sie geopolitisch ein. Es formuliert auch konkrete Handlungsempfehlungen für Politik, Wirtschaft und Forschung. Die Autoren des Papiers – allen voran Prof. Christoph Kutter, Direktor des Fraunhofer EMFT und Mitglied im Präsidium des VDE – sind indes bemüht, ein differenziertes Bild zu zeichnen: So habe Europa zwar in den vergangenen 20 Jahren substanzielle Anteile an der weltweiten Halbleiterproduktion verloren, es verfüge aber in einigen Bereichen durchaus noch über strategisch relevante Kompetenzen. Diese gilt es zu stärken, gezielt zu ergänzen und durch ein besser koordiniertes industrielles Handeln zur Wirkung zu bringen, heißt es in dem Papier.

Zentral ist dabei der Begriff der Souveränität. Es geht den Autoren nicht um technologische Autarkie, sondern um ein ausgewogenes Maß an wechselseitiger Abhängigkeit, das Europa in die Lage versetzt, in Krisensituationen handlungsfähig zu bleiben. Kutter bringt das Konzept auf eine einfache Formel: „Souveränität heißt nicht, dass wir alles selbst machen müssen. Aber wir müssen so relevant sein, dass andere uns brauchen.“ Das gelte insbesondere für die sogenannten Advanced Technology Nodes – also modernste Chipstrukturen im 3- bis 5-Nanometerbereich –, die heute fast ausschließlich in Taiwan, Südkorea und den USA gefertigt werden. Europa ist hier außen vor. Die jüngsten Ansiedlungen internationaler Halbleiterhersteller seien zwar begrüßenswert, reichten aber nicht aus, um den Rückstand entscheidend zu verkleinern.

Blick in die Chipproduktion von Bosch

Bosch ist Weltmarktführer für Halbleitersensoren. Der Aufstieg begann mit Chips für Airbags und ABS. Mit dem Bau einer 300-mm-Fabrik in Dresden, gefördert durch das IPCEI-Programm, stärkt das Unternehmen nun auch seine Rolle in der europäischen Chipproduktion.

| Bosch

Neben der Fertigung richtet das Papier den Fokus auf das Design von Chips. Hier sieht es den größten Hebel, um technologische Tiefe zurückzugewinnen. In Europa gebe es kaum unabhängige Chipdesign-Firmen, die eigene Architekturen entwickeln, kritische Patente halten und damit systemrelevante Standards setzen. Vieles sei auf den Eigenbedarf großer Unternehmen beschränkt. Kutter fordert deshalb ein neues industriepolitisches Verständnis von Gestaltungsmacht: „Europa muss in der Lage sein, eigene Schlüsseltechnologien zu entwickeln, zu designen und in Fertigungspartnerschaften zu bringen. Wer hier nicht präsent ist, verliert nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch an Bedeutung.“ Die Einführung von offenen Hardware-Architekturen wie RISC-V biete Chancen für neue Player, doch ohne gezielte Förderung bleibe das Potenzial ungenutzt.

Deutlich wird auch: Die Mikroelektronik ist längst keine rein wirtschaftliche Disziplin mehr, sondern eine sicherheitspolitische. Der Ukrainekrieg hat gezeigt, wie kritisch Chips für Verteidigungssysteme, Kommunikationstechnologien und industrielle Resilienz sind. Wer keinen Zugang zu spezialisierter Elektronik hat, kann keine modernen Waffen bauen, keine zuverlässigen Infrastrukturen betreiben und keine krisensicheren Systeme steuern. Das Papier fordert daher, die militärische Dimension in Förderstrategien mitzudenken – nicht aus sicherheitspolitischem Kalkül allein, sondern als Teil technologischer Souveränität. Auch hier sieht Kutter Versäumnisse: „Europa hat sich zu lange auf zivile Anwendungen konzentriert. Doch moderne Mikroelektronik ist dual-use. Wer sie beherrscht, kann beides: Innovation und Verteidigung.“

Die Autoren plädieren für ein intelligentes Zusammenspiel von Forschung, Industrie und Staat. Der Fokus müsse auf den Bereichen liegen, in denen Europa heute bereits wettbewerbsfähig ist oder wieder werden kann. Dazu gehören die Leistungselektronik, Sensorik, Optohalbleiter sowie die Fertigung spezialisierter Systeme auf älteren, aber stabilen Technologiepfaden. In diesen Segmenten sei der Abstand zur Weltspitze überschaubar, das industrielle Umfeld belastbar und die Anwendungsexpertise – etwa in der Automobilindustrie oder Medizintechnik – tief verankert. Besonders das sogenannte 3D-Packaging, also die Verbindung verschiedener Chipkomponenten zu komplexen Modulen, biete neue Wertschöpfungspotenziale. Statt auf riskante Prestigeprojekte zu setzen, müsse Europa seine vorhandenen Stärken gezielt ausbauen.

Reinraum von ASML

ASML stellt als einziges Unternehmen weltweit Maschinen für die EUV-Lithografie her – eine Schlüsseltechnologie für 5-nm-Chips. Möglich wurde dies durch Partnerschaften mit ZEISS (Optiken) und TRUMPF (Laser). Die Hightech stammt aus den Niederlanden und Deutschland.

| © ASML

Dabei stellt das Papier auch gängige Argumente infrage. Die Behauptung, Halbleiterförderung sei volkswirtschaftlich zu teuer, halten die Autoren für empirisch widerlegt. Studien zeigten, dass Investitionen in Chipstandorte in wenigen Jahren amortisiert seien – nicht zuletzt durch Folgeeffekte auf Zulieferer, Forschungseinrichtungen und Arbeitsmärkte. Ähnlich wird die These zurückgewiesen, Europa brauche keine 3-Nanometer-Technologie, weil es keine Produkte dafür herstelle. Kutter entgegnet: „Was heute als überflüssig gilt, ist morgen bereits Standard. Deshalb ist es richtig und wichtig, diese Technologie nach Europa zu holen.“ Entscheidend sei, jetzt die Weichen zu stellen – sowohl bei Fertigung als auch bei Design, sowohl in der Forschung als auch in der industriellen Umsetzung.

Trotz aller Klarheit vermeidet das Papier alarmierende Töne. Es benennt Schwächen, aber auch Chancen. Positiv hervorgehoben werden etwa die Rolle von ASML in der Lithografie, der Cluster „Silicon Saxony“ rund um Dresden sowie neue Programme wie FMD und APECS, die Forschung und Industrie besser verzahnen sollen. Die Autoren mahnen jedoch, sich auf diesen Erfolgen nicht auszuruhen. Die Dynamik in Asien und den USA sei enorm, die globale Standortkonkurrenz härter denn je. Was fehle, sei ein strategischer Kompass für Europa, der über bloße Koordination hinausgeht. Kutter fordert deshalb einmal mehr: „Wir brauchen einen europäischen Masterplan – verbindlich, ambitioniert und langfristig angelegt.“

Ein solcher Plan, so das Fazit, muss mehrere Ebenen gleichzeitig adressieren: Investitionsbedingungen, Fördermechanismen, Fachkräfteentwicklung, internationale Marktzugänge und europäische Industriepolitik als Gesamtstrategie. Ohne diesen integrierten Ansatz bleibe der European Chips Act ein Flickenteppich. Dass Zeit ein kritischer Faktor ist, macht das Papier an zahlreichen Stellen deutlich. Vieles sei in Bewegung und gerade deshalb müsse Europa jetzt handeln, statt weiter nur zu analysieren. Zwar geht manches in die richtige Richtung, etwa die jüngst beschlossene Hightech-Agenda, die unter anderem das Ziel hat, Deutschland als führenden Chip-Produktionsstandort in Europa zu etablieren. GMM-Geschäftsführer Dr. Ronald Schnabel bringt es jedoch auf den Punkt: „Wenn wir Europas Mikroelektronik wirklich sichern wollen, brauchen wir mehr als einzelne Förderbescheide. Wir brauchen Entschlossenheit – und einen Plan, der diesen Namen verdient.“

Standardisierung: »Chips muss man vertrauen können«

Aufmacher-Westenberger
Dragon Claws / stock.adobe.com
02.09.2025 VDE dialog

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Interview: Martin Schmitz-Kuhl

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