Die Energiewende ist dezentral – dieser Satz begleitet die Transformation der elektrischen Energieversorgung seit ihren Anfängen, und er wird immer noch gerne und häufig verwendet. Und er trifft natürlich auch zu. Die größten technischen Veränderungen für die elektrische Energieversorgung sind Dezentralität und Dynamik. Dezentralität, weil künftig Millionen kleiner, eben dezentraler Anlagen das leisten müssen, was historisch von verhältnismäßig wenigen und großen Kraftwerken erledigt wurde. Und Dynamik, weil die Wetterabhängigkeit der neuen erneuerbaren Quellen zu sehr viel größeren und schnelleren Änderungen im Systembetrieb führen kann, als wir sie in der Vergangenheit kannten.
Lokale Autarkie – nicht um jeden Preis
Oft wird Dezentralität immer noch mit kleinräumiger Autarkie gleichgesetzt. Man müsse nur die Dezentralität richtig umsetzen, dann könne man unter anderem auf ungeliebte Netze verzichten. Die neueste Ausprägung dieser Sicht ist ein Szenario mit lokalen und somit wohl auch kleinen Elektrolyseuren zur dezentralen Gewinnung von Wasserstoff. Um es vorweg klarzustellen: Man könnte sich in der Tat auf diese Weise lokale Autarkie vorstellen – allerdings zum Preis hoher installierter Erzeugungsleistungen, weil man mit dem lokal verfügbaren Wetter auskommen und die Umwandlungsverluste bei der Elektrolyse decken müsste. Hohe installierte Leistung bedeutet zum einen ineffiziente Nutzung der damit verbundenen Investitionen, es bedeutet aber vor allem auch ineffiziente Flächennutzung. Angesichts der bereits heute bestehenden Widerstände gegen den weiteren Ausbau erneuerbarer Energien an Land und des absehbaren zusätzlichen Bedarfs an elektrischer Energie im Verkehrs- und Wärmesektor ist es mehr als fraglich, ob wir ausreichend Platz finden, um auch noch in großem Stil Wasserstoff in unserem Land produzieren zu können. Um Missverständnissen vorzubeugen: Dies soll keine Absage an lokale Optimierung sein. Natürlich sollte im künftigen Energieversorgungssystem so viel wie möglich vor Ort gelöst werden und nur Aufgaben, bei denen das nicht möglich ist, weiter nach oben delegiert werden. Darauf hat u.a. die Energietechnische Gesellschaft im VDE (VDE ETG) immer hingewiesen. Aber die Chancen und Grenzen lokaler Maßnahmen müssen im Kontext der Erfordernisse des Gesamtsystems gesehen werden.
Mehr über Verteilungsnetze sprechen
Es gibt eine weitere Konsequenz der Dezentralität – und der wird bisher erstaunlicherweise keine ausreichende Aufmerksamkeit geschenkt: Künftig wird die Einspeisung überwiegend auf den Verteilungsebenen stattfinden, muss von dort aber ihren Weg ins ganze System finden. Dazu wird nicht nur der Ausbau der Übertragungsnetze – der Schnellstraßen – gebraucht, sondern auch die Anpassung und Verstärkung der Verteilungsnetze – sozusagen der Zubringer. Während der Netzausbau auf Übertragungsebene und auch die großen Erzeugungsprojekte, vor allem die Offshore-Windparks, seit langem politische Aufmerksamkeit genießen, wird über die Verteilungsnetze immer noch wenig gesprochen. Dabei sind die Engpässe dort schon heute groß. Allerdings sind damit im Unterschied zur Übertragungsebene weniger elektrische Engpässe gemeint, sondern Engpässe in der Lieferkette. Eines der knappsten Produkte für die Ausrüstung elektrischer Netze sind aktuell Verteiltransformatoren, und natürlich wird auch der Fachkräftemangel in der Verteilung viel stärker zu Buche schlagen als in der Übertragung – schlicht, weil wir in der Verteilungsebene über viel mehr Projekte sprechen.
Chancen realistisch einschätzen, Herausforderungen annehmen
Die Energiewende ist dezentral – ohne Zweifel. Wir alle, d. h. natürlich die Fachleute, aber letztlich auch alle Bürgerinnen und Bürger, müssen Dezentralität und ihre Konsequenzen verstehen, vorurteilsfrei und nüchtern. Der VDE mit seiner einzigartigen Kombination aus Expertennetzwerk und Verankerung vor Ort kann und muss dabei eine wichtige Rolle spielen.
Der Begriff Dezentralität ist in der energiepolitischen Diskussion Deutschlands ein positiv belegter Begriff, der überwiegend mit – teils unrealistisch eingeschätzten – Chancen, jedoch selten mit daraus resultierenden Verpflichtungen und Herausforderungen verbunden wird. Es gibt aber, wie meist im Leben, beide Seiten. Dezentralität heißt: viele kleine Projekte mit großem Bedarf – an Komponenten und Arbeitskräften. Und dies betrifft nicht nur die noch verhältnismäßig einfach zu beschaffenden und zu installierenden dezentralen Anlagen, sondern auch den dazu passenden Umbau der Netze – und hier vor allem der wenig sichtbaren Verteilungsnetze. Ein offensichtlicher Schritt, mit dieser Herausforderung umzugehen, ist die transparente Quantifizierung der vor uns liegenden Aufgabe. Entwicklungspläne für die Verteilungsnetze würden beispielsweise allen Akteuren entlang der Wertschöpfungskette der elektrischen Energieversorgung aufzeigen, worauf sie sich in den kommenden Jahren einstellen sollten.
Prof. Dr. Jochen Kreusel ist Market Innovation Manager bei Hitachi Energy und Mitglied des VDE Präsidiums