EuGH Große Kammer

Die große Kammer des Europäischen Gerichtshofes. Am 5. März 2024 fiel hier das Urteil über den Zugang der Öffentlichkeit zu harmonisierten Normen, das die Zukunft der europäischen Normung auf eine harte Probe stellt. Nun bemühen Normungsorganisationen sich um eine Kompromisslösung. 

| EuGH
28.05.2024 VDE dialog

Europäische Normung: (K)eine Rolle rückwärts

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Veröffentlichung von Normen könnte das bewährte Normen-System auf den Kopf stellen. Wolfgang Niedziella, Mitglied der DKE Geschäftsleitung und Präsident des Europäischen Komitees für elektrotechnische Normung CENELEC, erklärt die Hintergründe und wie die Normungs-Community das Schlimmste verhindern kann.

VDE dialog: Fangen wir mal ganz vorne an: Wozu brauchen wir Normen? 

Wolfgang Niedziella: Genormt wird bereits seit Ewigkeiten: Schon wenn man im Mittelalter auf einem Markt etwas wiegen wollte, musste man sich vorher auf ein Gewichtsmaß einigen. Im Laufe der Zeit hat sich das natürlich entwickelt, Normen sind inzwischen ein wesentlicher Bestandteil unserer ganzen Produktwelt geworden. Dabei sind Normen nichts anderes als bestimmte Dinge, auf die sich interessierte Kreise im Konsens einigen, um zum Beispiel Interoperabilität zu gewährleisten. Ein beliebtes Beispiel ist dafür der Stecker, der idealerweise nun einmal nicht nur in eine Steckdose passen sollte. 

Gerade für kleine und mittlere Unternehmen sollen Normen sehr wichtig sein. Warum? 

Weil solche Unternehmen in der Regel weder große Rechts- noch große Entwicklungs- noch große Risikoabteilungen haben. Für sie sind solche Absprachen natürlich besonders komfortabel, weil sie mit einem normkonformen Produkt sicher sein können, dass sie mit ihm auf dem aktuellen Stand der Technik sind und eine gewisse Sicherheit haben – auch was die Haftung angeht.  

Inwieweit sind Hersteller verpflichtet, sich an Normen zu halten?  

Normen sind grundsätzlich erst einmal freiwillig, es sei denn, der Gesetzgeber sagt etwas anderes. Das macht er zum Beispiel im Medizinproduktebereich, weil er hier ein besonderes Interesse daran hat, dass kein Produkt auf den Markt kommt, das bestimmte Anforderungen nicht erfüllt. In den meisten Bereichen ist die Anwendung allerdings nicht vorgeschrieben. Das gilt auch für den Fall, dass ein Hersteller ein Produkt in den europäischen Binnenmarkt einbringen möchte: Er muss sich dabei an die Richtlinien halten. Er kann Normen anwenden, aber auch auf andere Art und Weise nachweisen, dass sein Produkt dem Stand der Technik entspricht. Das ist nur eben viel aufwendiger und rechtsunsicherer, sodass die Hersteller in aller Regel sehr gerne auf die Normen zurückgreifen. 

Aber welche Normen? Es gibt doch deutsche, internationale und harmonisierte europäische Normen. 

Im Bereich der Elektrotechnik haben wir uns schon vor rund 30 Jahren darauf geeinigt, nicht mehr nur national normen zu wollen und auch nicht nur europäisch. Denn die Elektroindustrie ist international ausgerichtet und arbeitet für den Weltmarkt. Deswegen fragen wir immer erst einmal bei der internationalen Normenorganisation IEC und ihren Mitgliedsländern an, ob sie an einer Norm interessiert sind. Wenn das der Fall ist, wird weltweit genormt und dann in der Regel auch von den europäischen Normenorganisationen übernommen. Um es in Zahlen zu sagen: 79 Prozent aller europäischen Normen sind mit der entsprechenden internationalen Norm identisch, sechs Prozent basieren auf der weltweiten Norm und unterscheiden sich nur aus bestimmten rechtlichen Gründen im Detail, und bloß 15 Prozent sind rein europäische Normen.

Aber wer konkret entwickelt diese Normen überhaupt?  

Dafür gibt es innerhalb der Organisationen wie der DKE oder dem DIN einen Prozess mit klaren Vorgaben: Zunächst muss jemand einen Normungsbedarf anmelden. Dann bringen wir Experten aus interessierten Fachkreisen in einem Gremium zusammen: Hersteller, Verbände, Verbraucherschutz, Umweltschutz, Berufsgenossenschaften und andere – grundsätzlich hat jeder das Recht, an einer Normung mitzuwirken. Damit wir arbeitsfähig bleiben, haben wir allerdings das Gremium auf 21 Personen beschränkt. Wir als DKE stellen für dieses Gremium einen Hauptberuflichen, der das alles organisiert und managt, der die Dokumente vorbereitet, zur Sitzung einlädt und dann auch Protokoll führt. So wird der Entwurf für eine Norm erarbeitet, der dann international eingebracht wird und nach einem Abstimmungsprozess dann in der Fachöffentlichkeit vorgestellt wird, damit sie kommentiert und bewertet werden kann. Am Ende, wenn alle etwaigen Einsprüche ausgeräumt sind, steht dann als Konsens die gemeinsame Norm.

Das alles klingt extrem aufwendig. Wer kommt für die dabei entstehenden Kosten auf?

CENELEC Wolfgang Niedziella

„Normungsorganisationen und die Unternehmen, die ihre Experten in die Gremien entsenden, invenstieren eine Menge Zeit und Geld, um die Normung voranzutreiben.“ Wolfgang Niedziella, CENELEC-Präsident, im Interview mit dem VDE dialog. 

| CENELEC

Ja, das ist sehr aufwendig. Und die Unternehmen und Organisationen, die ihre Experten in das Gremium entsenden, investieren eine ganze Menge Zeit und Geld, um die Normung voranzutreiben. Das Gleiche gilt für uns als Hauptamtliche, allerdings haben wir die Möglichkeit, dies über den späteren Normenverkauf zu refinanzieren. 

Gerade das wird aber auch immer wieder kritisiert. Manch ein Handwerker ärgert sich, dass er verpflichtet ist, sich an Normen zu halten, die er dann noch nicht einmal kostenfrei zu Verfügung gestellt bekommt. Können Sie diese Kritik nicht ein Stück weit nachvollziehen?

Diese Argumentation ist uns bekannt und wir diskutieren das natürlich auch mit den entsprechenden Verbänden. Man muss sich aber vor Augen führen, dass diese Normen schließlich nicht gegen, sondern für das Handwerk und die Sicherheit seiner Kunden gemacht sind. Aber selbst wenn man die Handwerker entlasten und ihnen die Normen schenken wollte, müsste man sich ja überlegen, wer für die nun einmal entstehenden Kosten aufkommen sollte. Und hier nach dem Staat und den Steuergeldern zu rufen, scheint mir nicht der richtige Weg zu sein, denn dann wird die Normung nicht mehr in freier Selbstverwaltung der interessierten Kreise erfolgen. 

Bewegung in diese Diskussion kam jetzt aber durch den sogenannten Malamud-Fall. Könnten Sie kurz schildern, worum es hier geht? 

Ich sollte hier etwas ausholen: Denn man muss hierzu wissen, dass in den 1970er-Jahren die Europäische Kommission technische Anforderungen direkt in ihre Gesetze geschrieben hat. In diesen sogenannten Direktiven stand dann im Prinzip drin, wie zum Beispiel ein Produkt zu bauen ist. In den 1980er-Jahren unter dem damaligen Kommissionspräsident Jacques Delors wurde dann erkannt, dass das so nicht weitergehen konnte. Denn der technische Fortschritt war einfach zu schnell, um da mithalten zu können. Deshalb wurde beschlossen, in die Direktiven keine technischen Werte mehr festzuschreiben, sondern nur Schutzziele. Die technischen Details werden seitdem in europäischen Normen von Fachleuten erarbeitet. Und diese werden dann einer Richtlinie zugeordnet und im Amtsblatt der Kommission gelistet.

Das ist das, was man unter New Approach versteht. 

Richtig. Der hat 1985 mit der Elektrotechnik angefangen und sich dann nach und nach durchgesetzt. Inzwischen wurde der New Approach weiterentwickelt zum New Legislative Framework. Das bedeutet, dass man als Unternehmen, wenn man in Europa ein Produkt in den Verkehr bringen möchte, sich entweder an alle Richtlinien halten muss, die ein Produkt betreffen, oder alternativ an alle Normen, die unter den betreffenden Richtlinien gelistet wurden. Denn in diesem Fall tritt die sogenannte Vermutungswirkung in Kraft. Gerade kleine und mittlere Unternehmen nutzen das, weil sie sich nicht durch einen Wust an Gesetzen und Verordnungen arbeiten wollen. Sie müssen nur Sorge tragen, dass sie sich an die technischen Spezifikationen der Norm halten und können dann die CE-Kennzeichnung für ihr Produkt nutzen und es europaweit auf den Markt bringen. Das gilt für europäische wie für außereuropäische Hersteller gleichermaßen und ist Basis für den 30-jährigen Erfolg unseres europäischen Binnenmarktes. 

Und dann kam Carl Malamud? 

Streng genommen kam erst einmal James Elliot. Das ist ein irischer Bauunternehmer, der gegen einen Zulieferer von Baustoffen wegen nicht normgerechten Zements geklagt hatte. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stellte 2016 in seinem Urteil fest, dass die europäischen Normen, die im Amtsblatt gelistet sind, Teil des Unionsrechts sind. Mit diesem Schiedsspruch nahm dann das Unheil seinen Lauf. 

Inwiefern? 

Carl Malamud ist jemand, der in den USA eine Organisation gegründet hat, die sich dafür stark macht, dass öffentliche Dokumente der Regierung frei zur Verfügung gestellt werden müssen – mit dem Argument, dass gerade „arme“ Menschen sich nicht an Gesetze halten können, wenn sie nicht wüssten, was überhaupt darin steht. Als diese Organisation, bzw. deren irische Dependance, dann von dem James-Elliot-Urteil erfuhr, kam sie auf die glorreiche Idee, dass Normen nun ebenfalls frei sein müssten, weil sie schließlich Teil des Unionsrechts sind. Deshalb hat die Organisation die Europäische Kommission verklagt, um exemplarisch vier Normen zur Spielzeugsicherheit kostenfrei zu bekommen.  

Was kam heraus? 

Der EuGH hat letztlich geurteilt, dass diese vier Normen tatsächlich frei zugänglich sein müssen, weil das Bedürfnis von Eltern, wissen zu wollen, was die Anforderungen an das Spielzeug ihrer Kinder sind, höher einzustufen ist als die wirtschaftlichen Interessen der Organisationen, die diese Anforderungen erarbeitet haben. 

Und was bedeutet das nun für elektrotechnische Normen? 

Erst einmal möchte ich betonen, dass es sich bei unseren elektrotechnischen Normen um Texte von Fachleuten für Fachleute handelt. Sie richten sich also an Fachleute in der Wirtschaft und die Marktaufsichtsbehörden. Von daher ist das nicht ganz vergleichbar mit den Spielzeugnormen, um die es hier ging. Der Fall löst natürlich Emotionen aus, da er Kinder betrifft. Dennoch zieht das jetzt Kreise und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis die Veröffentlichung der nächsten Normen erklagt werden würde. Um das zu verhindern, fordert jetzt auch die Europäische Kommission, dass alle harmonisierten Normen der Öffentlichkeit frei zugänglich gemacht werden. Und hier reden wir dann von über 3.300 Normen, rund 15 Prozent des Normenwerkes unserer Normungsorganisationen.

Das heißt, wenn diese Organisationen jetzt verpflichtet werden, alle Normen kostenfrei herauszugeben, werden sie auch 15 Prozent ihres Umsatzes verlieren. 

Das ist zumindest das Schreckgespenst, das erst einmal im Raum stand. Allerdings geht es erstens nicht nur um den wirtschaftlichen Schaden für die Normungsorganisationen, sondern um die negativen Folgen, die das insgesamt für die Zukunftsfähigkeit der europäischen Wirtschaft haben kann. Und zweitens sind wir ja gerade in der Diskussion mit der Europäischen Kommission, um genau das zu verhindern. 

Inwieweit wäre denn die Zukunftsfähigkeit der europäischen Wirtschaft davon gefährdet?

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Harmonisierte Normen – Europäischer Rechtsrahmen

Harmonisierte Normen stellen durch besondere Merkmale eine gesonderte Form europäischer Normen dar. Das wesentliche Ziel harmonisierter Normen ist es, den europäischen Binnenmarkt auszubauen und den freien Handel zu stärken, indem Handelsbarrieren abgebaut werden.

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Wenn es zu keiner Einigung kommt und die Normungsorganisationen nicht mehr ihre seit 30 Jahren bewährte Arbeit machen können, besteht einfach die Gefahr, dass das ganze System in sich zusammenfällt. Das heißt, ohne Möglichkeit der Gegenfinanzierung wird sich möglicherweise keine Organisation mehr finden, die die Normen erarbeitet. Und selbst wenn doch, wäre die Gefahr noch nicht gebannt, weil die internationalen Normenorganisationen wahrscheinlich nicht davon begeistert sein werden, wenn hier in Europa ihre Normen verschenkt werden würden.

Da – wie eben dargestellt – die meisten der Europäischen Normen auf internationalen Normen beruhen. 

Ganz genau! Ein Amerikaner bräuchte dann beispielweise nicht mehr in den USA die internationalen Normen kaufen, sondern könnte sie dann ganz einfach über die Europäische Kommission kostenfrei beziehen. Weil das unsere Kollegen in den außereuropäischen Organisationen ganz sicher nicht wollen, bestünde einfach die Gefahr, dass die bestehenden Verträge aufgekündigt werden und die Synchronisation zwischen internationaler Normung und europäischer Normung so nicht mehr stattfinden kann. Dass es wirtschaftlich nicht gerade sinnvoll wäre, zwei parallele Normungsprozesse zu haben, muss ich wahrscheinlich nicht erklären. Vor allem könnte es aber eben passieren, dass Europa und der Rest der Welt bei den Normen auseinanderdriften – was sicherlich kein Mensch möchte.  

Das ist das Schreckgespenst, von dem Sie eben sprachen. Und Sie sagten, dass Sie derzeit mit der Kommission verhandeln, um genau das zu verhindern. Das dürfte aber doch nicht so schwer sein, schließlich müsste Ihr Verhandlungspartner genauso ein Interesse haben, das Erfolgsmodell der Europäischen Normung fortzusetzen. 

Natürlich möchte man auch vonseiten der Kommission eine Einigung haben, schließlich hat sie erst vor zwei Jahren eine Normungsstrategie herausgebracht, in der sie genau dieses Modell der sogenannten Public Private Partnership noch einmal richtig hat hochleben lassen. Wenn das jetzt alles zusammenbrechen würde, wäre das auch für die Kommission eine Rolle rückwärts in die 1970er-Jahre. Man muss aber auch ganz klar sagen: Die eine Kommission gibt es nicht. Sie besteht aus mehreren Generaldirektoraten und da gibt es durchaus unterschiedliche Meinungen und Strömungen. Das muss man sich wie in der Ampelkoalition in Berlin vorstellen.

Und zudem gibt es ja auch eben das Urteil des EuGH, an dem auch die Kommission nicht vorbeikommt. Wo gibt es also Verhandlungsspielraum? 

Zum einen ist es ganz wichtig zu betonen, dass der EuGH in seinem Urteil ausdrücklich nicht gesagt hat, dass das Copyright an den Normen aufgehoben werden würde. Das heißt im Umkehrschluss, dass wir als Normungsorganisationen weiterhin das Copyright an den Normen besitzen und diese auch schützen können. Zum anderen hat der EuGH nicht gesagt, dass die Normen verschenkt werden müssen. Die Öffentlichkeit hat nur ein Recht auf den freien Zugang zu den Normen. 

Aber was heißt das konkret? Worauf könnte man sich einigen? 

Wir haben der Kommission einen Vorschlag unterbreitet, dass wir als Normungsorganisationen die Aufgabe der kostenfreien Bereitstellung der Normen übernehmen. Das heißt, dass dies nicht auf dem Portal der Kommission erfolgt, sondern bei uns. Das hätte den Charme, dass wir das alles ein bisschen mehr unter Kontrolle hätten und unser Copyright besser schützen könnten. Wir wüssten, wer die Dokumente abruft, und könnten auch technisch verhindern, dass die einfach so kopiert und anderweitig publiziert werden können. Denn wenn das Material einmal frei zugänglich im Netz ist und in irgendwelchen KI-Systemen verschwindet, ist es verbrannt – und kommerziell für uns nicht mehr nutzbar. 

Darum geht es also gerade in der Verhandlung? 

Das ist der eine Hauptknackpunkt. Der andere ist, dass wir für den uns drohenden Umsatzverlust auch eine Kompensation haben wollen. Vom 25. bis 28. Juni findet die CENELEC-Generalversammlung statt. Dort werden die Mitglieder entscheiden, ob die bis dahin geführten Verhandlungsergebnisse mitgetragen werden, bzw. welcher andere Weg eingeschlagen wird.

Das Interview führte Martin Schmitz-Kuhl, freier Autor aus Frankfurt am Main und Redakteur beim VDE dialog.

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